Leibniz-Objekt des Monats
August 2016: Der Leibniz'sche Analogrechner
  
  
  
  
  
    
Der Leibniz’sche Analogrechner
Das Leibniz-Objekt des Monats Mai  hat den Nachbau der Leibnizʼschen Vier-Spezies-Rechenmaschine  vorgestellt. Diese Maschine, die dreizehn anderen Nachbauten und die  vier Originalmodelle, die Gottfried Wilhelm Leibniz zu Lebzeiten  anfertigen ließ, sind dem Feld der digitalen Rechentechnik zuzuordnen,  zu dem auch der Computer gehört. Daneben hat Leibniz auch Beiträge  zur analogen Rechenkunst geleistet, die bis weit ins 20. Jahrhundert  florierte.
   
  So kennen ältere Leserinnen und Leser sicher  noch den Rechenstab oder Rechenschieber, bestehend aus dem sogenannten  Körper, der darin verschiebbaren Zunge und dem hin- und herfahrenden  Läufer aus durchsichtigem Material. Das Instrument dient meist zur  schnellen Multiplikation und Division und ist trotz der eingravierten  Ziffern kein digitales Instrument, sondern arbeitet analog. Der Benutzer  überträgt Zahlen auf korrespondierende Größen in der realen Welt, in  diesem Fall auf Abschnitte auf den logarithmisch unterteilten Skalen des  Stabes. Die Abschnitte setzt er aneinander oder zieht sie voneinander  ab. Beim Ablesen der daraus resultierenden Strecke überträgt er wieder  eine real existierende Größe in das Reich der Zahlen. 
 
  Der Rechenstab-Historiker Werner Rudowski wies 2007 darauf hin, dass sichLeibniz in seinen letzten Lebensjahren mit einem mathematisch dem  Rechenstab verwandten Gerät befasste. Zwischen 1712 und 1715 stand er  in regem Briefwechsel mit dem Markscheider und Ingenieur Bernhard  Ripking (1682-1719) in Clausthal im Harz. In einem Schreiben vom 29. Mai  1712 erwähnte Leibniz  „Auftragung  von Logarithmorum auff Linien, damit man zimliche Zahlen leicht  multiplizieren und divieren kann“. Er bat Ripking um das Anfertigen  eines Zylinders und das Auftragen einer logarithmisch unterteilten  Schraubenlinie auf dem Zylindermantel. Die Linie, das sei ergänzt, würde  sich mehrmals um den Zylinder winden und entspräche der Skala eines  Rechenstabs. Zum Rechnen müsste man mit einem Zeiger Punkte auf der  Linie bzw. ihren Abstand abgreifen.
 
  In seiner umgehenden Antwort vom 3. Juni  1712 äußerte Ripking Zweifel an der Realisierung des Konzepts und schlug  stattdessen eine Rechenscheibe mit zwei gegeneinander verschiebbaren  Skalen vor. Leibniz reagierte seinerseits prompt und schilderte in  seinem Schreiben vom 20. Juni 1712 einen Weg zur Rettung seiner  ursprünglichen Idee: Man könne die logarithmische Skala in einen  Metallfaden ritzen, diesen entlang einer auf dem Zylinder gravierten  Schraubenlinie aufwickeln und die Skala übertragen. Damit endete die  Korrespondenz der beiden Herren zur Analogtechnik. Nachzutragen bleibt,  dass sowohl die Ripking’sche Rechenscheibe als auch der Leibniz’sche  Rechenzylinder im 19. Jahrhundert kommerziell hergestellt und vermarktet  wurden. 
 
Der Leibniz’sche Constructor
Die Weiterentwicklung des Rechenstabs ist  der Analogrechner. Er verbreitete sich im 19. Jahrhundert und trat  zunächst in mechanischer Form und speziellen Typen auf, wie Planimeter,  Integraph, Gezeitenrechner oder Differentialanalysator. Nach dem Zweiten  Weltkrieg entstanden flexibel einsetzbare elektrische Modelle, die bis  in die 1970er Jahre in Gebrauch waren. Sie enthielten zunächst  Elektronenröhren und später Transistoren, und sie ließen sich durch  Einstecken von Kabeln und Einstellen von Drehschaltern programmieren.  Bereits dreihundert Jahre zuvor hatte Leibniz das Konzept eines  spezialisierten mechanischen Analogrechners – vermutlich der erste in  der Geschichte der Mathematik – in zwei Manuskripten vom Dezember 1674  beschrieben, d.h. in seiner Pariser Zeit. 
 
Erstmalig ausgeführt hat Leibniz seine Idee in der immerhin  neunseitigen Handschrift „Constructor. Instrumentum Algebraicum pro  inveniendis omnium Aeqvationum Radicibus, geometricè pariter, et in  numero qvantumlibet exactis sine calculo“. Weiterverfolgt hat er den  Gedanken schließlich in der zwölfseitigen Gedankenskizze „Schediasma de  constructore“.
 

Abbildung: Leibnizʼ „Constructor.  Instrumentum Algebraicum pro inveniendis omnium Aeqvationum Radicibus,  geometricè pariter, et in numero qvantumlibet exactis sine calculo“, 9.  Seite, © GWLB Hannover, LHXXXV, III A 20, 5v.
 
Der Leibniz’sche Constructor besteht aus Stangen, Schnüren, Rollen  und Gelenken und hat den Zweck, Lösungen einer algebraischen Gleichung  zu finden. Es soll also beispielsweise das x aus ax + bx² + cx³ = d  ermitteln. Dafür stellt man zunächst am Gerät die Werte für a, b und c  sowie einen beliebigen Startwert x1 für x ein. Diese Einstellungen verändern das Gestänge und bewirken, dass man am Constructor eine Strecke der Länge  ax1 + bx1² + cx1³  ablesen kann. Diese ist vermutlich noch nicht gleich d. Durch weiteres  Verschieben und Verdrehen von Stangen lässt sich die variable Größe x  aber so ändern, dass ax + bx² + cx³ im Rahmen der Genauigkeit gleich d  wird, womit das Ziel erreicht wäre. 
 

Abbildung: Leibnizʼ „Constructor.   Instrumentum Algebraicum pro inveniendis omnium Aeqvationum Radicibus,   geometricè pariter, et in numero qvantumlibet exactis sine calculo“, 1.   Seite, © GWLB Hannover, LHXXXV, III A 20, 1r.
 
Die Beschreibung hier gibt die Komplexität  der Leibniz’schen Konstruktion nur unvollkommen wieder, und für Details  verweisen wir den Leser auf den 1970 veröffentlichten Aufsatz des  Mathematikhistorikers Joseph Ehrenfried Hofmann (1900-1973). Die mathematische Basis des Constructors ist  der seit der Antike bekannte Strahlensatz, und die Anzeige beschränkt  sich auf reelle Lösungen der Gleichung. Wie die Skizzen von Leibniz  andeuten, sollte der Rechner aus zwei ähnlich aufgebauten Segmenten  bestehen. Das eine bearbeitet den Gleichungsteil mit positiven  Koeffizienten, das andere den Teil mit negativen Koeffizienten.
 
Die zweite Erfindung des Constructors
Der von Leibniz erdachte Analogrechner  verschwand in den Akten, ein Rechner ähnlichen Prinzips wurde jedoch 42  Jahre nach Leibnizʼ Tod, sehr wahrscheinlich unabhängig  von diesem, erneut erfunden und zehn Jahre später in ein  funktionsfähiges Modell umgesetzt, und zwar durch Johann Andreas von  Segner (1704-1777), der seit 1732 Mathematik und Naturwissenschaften in  Jena, Göttingen und Halle lehrte. 1758 ersann Segner ein geometrisches  Verfahren zum Lösen einer algebraischen Gleichung, das 1761 unter dem  Titel „Methodus simplex et universalis, omnes omnium aequationum radices  detegendi“ im Jahrbuch der kaiserlich-russischen Akademie der  Wissenschaften. „Novi Commentarii Academiae Scientiarum Imperialis  Petropolitanae“ erschien (VII, S. 211-226).
 
  Segners Arbeit stellt ein abstraktes  Rechengerät dar, in das man, um bei obigem Beispiel zu bleiben, die  Koeffizienten a, b, c und d sowie einen Wert für x eingibt und die Summe  ax + bx² + cx³ - d erhält. Sein Gerät war einfacher als das von  Leibniz, da es den Strahlensatz auf geschicktere Weise nutzte. Auf  dieser Grundlage konnte der Engländer John Rowning der Londoner Royal  Society 1768 ein funktionsfähiges Modell vorlegen. Zwei Jahre später erschien  auf den Seiten 240 bis 256 von Band LX (1770) der „Philosophical  Transactions” der Society Rownings Aufsatz „Directions for making a  Machine for finding the Roots of Equations universally, with the Manner  of using it”. 
 

Abbildung: Darstellung des Instruments von John Rowning im  Tafelband des „Supplément à l'encyclopédie ou dictionaire raisonné des  sciences des Arts et des métiers“ (Amsterdam 1776) zum Artikel  „Équation, Construction & usage d'une machine pour trouver les  racines de quelque équation que ce puisse être“.
 
Damit ist die Geschichte des Constuctors  aber keineswegs zu Ende, denn in den 1990er Jahren entstanden in Italien  zwei weitere Realisierungen des Leibniz-Segner-Rowning-Rechners.  Verantwortlich waren die Forscher Franco Conti und Aldo Frediani, die  Exponate für eine Mathematikausstellung suchten. Sie erhielten 1995 das  italienische Patent ITFI940083 für eine „Macchina generatrice di  polinomi“ (Maschine zur Erzeugung von Polynomen). Damit wurde der  Leibniz’sche Geistesblitz von 1674 gesetzlich geschützt – zumindest temporär, denn das Patent dürfte inzwischen abgelaufen sein. 
 

Abbildung: Zeichnung der Maschine von Franco Conti und Aldo Frediani aus dem italienischen Patent © ITFI940083.   
 
Autor: Ralf Bülow, freiberuflicher Wissenschafts- und Technikhistoriker in Berlin
 
Literaturhinweise:
Die Handschriften des Briefwechsels zwischen  Leibniz und Ripking finden sich in der Niedersächsischen Staats- und  Universitätsbibliothek Göttingen (SUB Göttingen, 8 Cod. Ms. philos. Bl.  1-5) bzw. im Niedersächsischen Landesarchiv – Hauptstaatsarchiv Hannover  (Cal. Br. 4 Nr. 114).
   
  Stefan Drechsler, Barbara Häberlin, „Eine geometrische Wurzelbehandlung –  Von der Idee zur Maschine durch fünf Sprachen, fünf Nationen und drei Jahrhunderte“ (2006), abrufbar unter http://www.rechnerlexikon.de/files/rowning.pdf 
 
Josef Ehrenfried Hofmann, "Über frühe mathematische Studien von G. W. Leibniz", in: Studia Leibnitiana 2 (2), 81 - 114.
 
  Werner H. Rudowski, „Leibniz und sein logarithmischer Rechenzylinder“ (2007), abrufbar unter http://www.rechenschieber.org/Leibniz.pdf 
 
  Heinz Nixdorf MuseumsForum, „Herr Leibniz und sein Analogrechner“ (2016), abrufbar unter http://blog.hnf.de/herr-leibniz-und-sein-analogrechner/