Salon Sophie Charlotte

Raum 343

Lernen, lesen, lieben
Fibeln, Katechismen und Romane als Schule des Lebens

Gastgeber: Markus Bernauer
Jean Paul Edition, BBAW

3. OG

Weltbilder verdanken sich Lernprozessen. Wie das Erlernen von Weltbildern, wie Lernen überhaupt historisch gedacht wurde, entwickeln an vier unkonventionellen Beispielen WissenschaftlerInnen dreier Forschungsprojekte der BBAW: die Kritische Karl Philipp Moritz-Ausgabe, die Jean Paul Edition und die Arbeitsstelle Libertinismus in Deutschland um 1800.

19:00

„Denn es ist die höchste Würde, ein Mensch zu seyn.“: Karl Philipp Moritz‘ „Neues A. B. C. Buch“ als Einführung in die Ordnung der Welt

Karl Philipp Moritz’ „Neues A. B. C. Buch, welches zugleich eine Anleitung zum Denken für Kinder enthält von 1790 enthält nicht nur Moritz’ eigene pädagogische Absichten in nuce, sondern feiert das geschriebene Wort als „heilige Sache“. In der Tradition des Orbis pictus zeigt Moritz, dass die Strukturen der Sprache und des logischen Denkens verwandt sind. „Neu“ an Moritz’ Neuem A. B. C. Buch ist, dass die den Buchstaben zugeordneten Bilder der Lebenswelt der Kinder entsprechen. Wie die Verbindung der Buchstaben zu Wörtern und Ideen führt, so bilden die die Ideen den Fundus entstehender Weltbilder. Wer lesen kann, erkennt die Ordnung der Dinge. Er kann nicht nur Welten entziffern, sondern auch schaffen. Ein Vortrag von Michael Rölcke über Karl Philipp Moritz’ biographisch erfahrenes Credo.

20:00

Jean Pauls „Abecedeeefgehaikaelemenopequerestheuvauweixypsilonzet“-Abenteuer: Von Lust und Unsinn der Welt in Zeichen, Bildern und Buchstaben

Die Übertragung der Realität in Schrift verspricht allein in der festgelegten Gestalt und Abfolge der Zeichen Ordnung ins Chaos zu bringen und Weltbilder zu schaffen. Wenn Jean Paul dem Verfasser der ersten Schreib- und Leseschule der Menschheit, der ersten Fibel, einen Roman widmet, so lässt er ihn in Ehrfurcht mit den „sieben letzten Worten“ beginnen, die dieser Verfasser „der gelehrten Welt zurief“: „Das Zähl-Brett hält der Ziegen-Bock“, um dann mit angemessenem Ernst zu bestätigen: „er hat recht“. Themen wie Schreiben als Daseinsbeweis und Lebenselixier, Sinnlichkeit der Schrift, Geistlosigkeit der Buchstaben, Macht und Nimbus des Publizierten und Zufälligkeit und Absurdität der Rezeption und Überlieferung werden nirgends so gewitzt durchgespielt wie von Jean Paul, dessen Bücher, so zeigt der Vortrag von Selma Jahnke, auch in der Gegenwart der Datenströme und digitalen Textmassen eine erfrischende Perspektive für alle bieten, die lesen und schreiben können oder es lernen wollen.

21:00

Frauenzimmer-Schule, Priaps Normalschule, Wörterbuch der Liebe: Erotische Katechismen um 1800

Aufklärungsliteratur – vergleichbar mit Oswald Kolle oder Dr. Sommer – gab es um 1800 nirgends. Allerdings finden sich nicht wenige Buchtitel, die durchaus Information und Anleitung in Fragen der Sexualität erwarten lassen, darunter ein Wörterbuch der physischen und moralischen Liebe, oder (im Titel anklingend an Ovids ironisches Lehrgedicht Ars amatoria, Liebeskunst) „Die Kunst Kinder zu zeugen“ und „Die Kunst mit Weibern glücklich zu seyn“. Der Vortrag von Josefine Kitzbichler gibt einen exemplarischen Einblick in sehr unterschiedliche „Lehrwerke“ zu literarischen, moralischen oder pragmatischen Aspekten dieses ebenso tabubesetzten wie gefragten wie weltbildenden Themas.

22:00

Die philosophische Therese: Ein Berliner Akademiedirektor schreibt einen nicht ganz jugendfreien Erziehungsroman

Der Marquis Boyer d’Argens, aus der Provence stammend, gehörte wie Voltaire zum Kreis um Friedrich II. und war Direktor der Literaturklasse der Akademie der Wissenschaften, der Vorgängerin der BBAW. Als Schriftsteller machte er sich früh einen Namen mit seinen Mémoires, ist aber berühmt geblieben mit dem ihm zugeschriebenen Roman Thérèse philosophe, der Geschichte eines Mädchens, das – so zeigt der Vortrag von Markus Bernauer – die Libertinage und das libertine Weltbilder beobachtend, nachdenkend und probierend erlernt.