Raus aus dem Elfenbeinturm: Welchen Nutzen bringt die Grundlagenforschung? Und wie viel Theorie braucht die Praxis?
   
Im Fokus der Auftaktveranstaltung stand Leibniz‘ berühmtes Diktum „Theoria cum praxi“, Ausdruck seiner Bemühungen um die Einheit der Wissenschaft wie auch um ihre Verantwortung jenseits einer Trennung von Theorie und Praxis. Diese Fragen sind heute vor allem für die angewandten Wissenschaften relevant, aber auch die Grundlagenforschung ist hier angesprochen: Welchen Nutzen bringt es, nach Antworten zu suchen, ohne die Fragen zu kennen? Und wieviel Theorie braucht die Praxis?
 
Im ersten Teil der Tagung „Theoria cum praxi – Wissenschaft zwischen Neugierde und Nutzen“ am 17. April 2015 widmeten sich die Philosophen Hans Poser (TU Berlin) und Volker Peckhaus (Universität Paderborn), der Technikhistoriker Ludolf von Mackensen (Universität Kassel) und der Kunsthistoriker Horst Bredekamp (HU Berlin) diesen Fragen im Hinblick auf eine (mögliche oder wünschenswerte?) Einheit der Wissenschaft. Diskutiert wurde die These, dass „Wissenschaft als Schnittstelle von Forschung und Leben, von Grundlagen und Anwendung“ zu begreifen ist, wie es der Philosoph Jürgen Mittelstrass einleitend formulierte.
 
Leibniz und die theoretische, methodische und sprachliche Einheit der Wissenschaften
Hans Poser 
Technische Universität Berlin
Hans Poser beleuchtete in seinem Vortrag die Herausforderungen, die mit  Leibniz’ Anspruch einhergehen, Wissenschaft mit praktischem Nutzen zu  verbinden. Das Erfahrungswissen um bestimmte Tatsachen und  das theoretisierbare Orientierungswissen, mit dem wir Verbindungen  herstellen, um uns so in der Welt zu orientieren, sei lebensweltlich  immer schon verbunden. Eine solche Einheit von Praxis und Theorie liege,  so Poser, bei den Wissenschaften „in der Struktur“: Alle Wissenschaften  legen offen, was ihre Erkenntnisquellen, was ihre Voraussetzungen und  die Regeln sind, nach denen jeweils geforscht wird, und wie ihre  Begründungsstrukturen je aussehen. So unterschiedlich die Gegenstände  der Forschung auch sein mögen, diese Struktur verbinde alle  Wissenschaften – und sei als „Ausdruck der Vernunft“ zu verstehen.
 
										 
			
			Leibniz und die Entstehung der modernen Logik
Volker Peckhaus
Universität Paderborn
Mit der Rolle der modernen Logik für die Einheit der Wissenschaften  setzte sich Volker Peckhaus auseinander. Er betonte, dass Leibniz die Logik  als „Kunst der Beurteilung, Kunst des Findens wie auch der Lösung von  Problemen durch Schlussfolgerungen“ verstand. Während Leibniz selbst die  Logik in diesem Sinne als Teil einer allgemeinen Wissenschaft sah, der  „scientia universalis“, wurden seine logischen Schriften bis zum Ende  des 19. Jahrhunderts nicht in der Philosophie, sondern vor allem in der  Mathematik aufgenommen und weitergeführt.
 
										 
			
			 
Leibniz als Ahnherr der Computer: Wissenschaftlich-technische Schlüsselerfindungen und ihre Folgen
Ludolf von Mackensen
Universität Kassel
Leibniz‘ Kreativität und die bis heute wirksamen Folgen seiner  visionären Erfindungen, wie etwa der Rechenmaschine, der  Infinitesimalrechnung oder des binären Zahlensystems – der Grundlage  unserer gesamten computerbasierten Technologie – waren Gegenstand des  Beitrags von Ludolf von Mackensen. Anschaulich beschrieb er die  Entwicklung der Rechenmaschine durch Leibniz und ihre technische  Komplexität, die es schließlich erlaubte, alle vier Grundrechenarten  durch die Bewegung von miteinander verbundenen Zahnrädern und Zylindern  auszuführen.
Der Wissenschaftshistoriker Eberhard Knobloch führte diese  Komplexität an einem Nachbau von Leibniz‘ historischer Rechenmaschine  vor und gab damit ein eindrückliches Beispiel von dessen  Erfindungsreichtum.
 
										 
			
			 
Leibniz und die Philosophie der Verkörperung: Über das Wechselspiel zwischen Kunstwerk und Denken
Horst Bredekamp
Humboldt Universität zu Berlin
Akademiemitglied
In seinem Abendvortrag machte Horst Bredekamp deutlich, dass Theorie  immer mit Praxis einhergeht, der Gegenstandsbezug konstitutiver  Bestandteil jeder geistigen Tätigkeit ist – entgegen der landläufigen  Interpretation, Theorie und Praxis seien zwei voneinander zu trennende  Bereiche der Wissenschaft (oder des Lebens und Alltagshandelns).  Kunstgegenstände, Bilder und Fossilien seien für Leibniz zugleich  Wissensspeicher und Anstoß zur Reflexion – umgekehrt könne Reflexion  nicht abstrakt ablaufen, sondern brauche eine „Verkörperung“. Mit  Leibniz’ Theorie, dass Erkenntnis von kontinuierlich kleinen,  „unmerklichen Perzeptionen“, die ähnlich wie das Freud’sche Unbewusste  im Verborgenen wirkten, zu „klaren und unterschiedenen Begriffen“ führe,  erläuterte Bredekamp einen weiteren Aspekt des untrennbaren  Zusammenhangs von Leben und Denken: Das Anarchische, oft Verworrene und  Dunkle des Lebens ist Voraussetzung für die Klarheit des Begriffs. Das  Dunkel bildet den notwendigen Hinter- und Untergrund für die Helle des  Lichts und die Klarheit der Farbe. Besonders deutlich wurde dies am  Verhältnis von Grund und Figur in der Malerei.
 
										 
			
			 
Im zweiten Teil der Tagung am 25. Juni 2015 stand die Verantwortung  der Wissenschaft im Mittelpunkt – ein zentrales Thema in den  Lebenswissenschaften, aber auch relevant für die Strukturen und Ziele  von Bildungs- und Forschungseinrichtungen wie Universitäten und  Akademien.
 
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Die öffentliche Tagung an zwei Tagen im April und Juni 2015 bildete den Auftakt zu einer Reihe von Veranstaltungen im Rahmen des Jahresthemas 2015|16 „Leibniz: Vision als Aufgabe“, das sich aus Anlass des Leibniz-Jubiläums 2016 dem Gründer der Akademie der Wissenschaften widmet. Im Zentrum steht, die Impulse aus Leibniz‘ Philosophie, seinen technischen Innovationen, seinen sozialen Bestrebungen und seinen vielfältigen kreativen Ansätzen für die Gestaltung einer Welt von morgen aufzunehmen.
 
Die Veranstaltung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung und fand in Kooperation mit L.I.S.A., dem Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung, statt.  
 
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