Unsere Vorstellungen zur Evolution von Geist und Gehirn werden geprägt von der Idee einer „scala naturae“, der natürlichen Stufenleiter. Der zufolge haben Lebewesen im Verlauf der Evolution immer neue Hirnkomponenten entwickelt und somit ihre Fähigkeit zur Generierung von Intelligenzleistungen vorangetrieben. Am Ende dieses Prozesses steht die Entwicklung der Säugetiere und schließlich des Menschen mit seinem Gehirn, das durch eine enorme Expansion des Cortex gekennzeichnet ist. Implizit gehen wir davon aus, dass die Leistungsfähigkeit des Gehirns stetig zunimmt und beim Menschen kulminiert. Der Cortex gilt als die neurale Plattform dieser Evolution. Die Vortragenden argumentieren, dass diese Konzepte falsch sind. Die Evolution der Kognition gleicht vielmehr einem Busch, an dessen Zweigen sich verschiedenartige neurale Strukturen entwickelt haben, die intelligentes Verhalten erzeugen. Lernen, Planen, zielgerichtet Navigieren, symbolisch Kommunizieren, ja sogar die Fähigkeit, sich selbst im Spiegel zu erkennen, braucht nicht notwendigerweise einen Cortex.
PROGRAMM
Begrüßung
Prof. Dr. Klaus Lucas, Vizepräsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
Warum ist der Mensch so intelligent? Gehirn und kognitive Leistungen bei Säugetieren
Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth, Institut für Hirnforschung, Universität Bremen
Der Mensch überragt an Intelligenz und geistig-kognitiven Leistungen alle anderen Tiere. Seit langem wird diskutiert, ob die hierbei aufgetretenen Unterschiede qualitativer oder nur quantitativer Natur sind, d.h. ob es für die menschlichen Leistungen Vorstufen bei den nichtmenschlichen Tieren gibt. Ebenso ist unklar, wie sich die unbezweifelbar hohe Intelligenz des Menschen anhand der Merkmale seines Gehirns erklären lässt. Diskutiert wurden und werden die absolute und relative Größe des Gehirns bzw. der Großhirnrinde, die Zahl der Nervenzellen des gesamten Gehirns bzw. der Großhirnrinde, die Verknüpfungsstruktur der Rinde, weitere Eigenschaften der neuronalen "Informationsverarbeitung", Eigenschaften des Arbeitsgedächtnisses oder nur beim Menschen vorhandene Hirnstrukturen und -funktionen wie das Broca-Sprachareal und eine syntaktisch-grammatische Sprache. Im Kurzvortrag wird hierzu auf der Grundlage der ausgedehnten empirischen Untersuchungen Stellung genommen.
Tintenfische - weiche Denker. Primaten des Meeres oder nur schlaue Schnecken?
Dr. Michael J. Kuba, Department of Neurobiology, Hebrew University Jerusalem
Schon in der Antike galten Oktopoden als intelligent. Aristoteles beschrieb ihren Drang zur Neugierde und ihre Sammelwut. Plinius hielt sie gar für schlau genug, einer Muschel einen Stein zwischen die Schalenhälften zu schieben, um leichteres Spiel mit ihr zu haben. Etliche wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Arbeiten und Dokumentationen haben sich in den letzten hundert Jahren bemüht zu ergründen, ob Oktopoden und ihre Verwandten die kognitiv am höchsten entwickelten Wirbellosen sind. Neben der erstaunlichen Lernfähigkeit entdeckten Forscher, dass vor allem Oktopoden in vielerlei Hinsicht eine Sonderstellung unter den Wirbellosen einnehmen. So weisen sie Verhalten auf, das wir sonst nur bei Wirbeltieren finden: Oktopoden besitzen Persönlichkeit, sie sind in der Lage, Werkzeuge zu gebrauchen und sie weisen neben ihrer schier unersättlichen Neugierde sogar Spielverhalten auf. All das erreicht der Oktopus mit einem Gehirn, das aus einer Verschmelzung simpler Mollusken-Ganglien entstanden ist. Für eine vergleichende neurobiologische Forschung ergibt sich daraus die Möglichkeit zu entdecken, wie im Laufe der Evolution komplett unterschiedliche Baupläne gleiche oder zumindest ähnliche kognitive Fähigkeiten entwickelt haben.
Trotz Minigehirn. Erwarten, Planen und Kommunizieren bei Insekten
Prof. Dr. Dr. h.c. Randolf Menzel, Institut für Biologie / AG Neurobiologie, Freie Universität Berlin
Obwohl wir wissen, dass die Größe eines Gehirns vor allem von der Körpergröße des entsprechenden Tieres abhängt, nehmen wir doch stets an, dass kleine Gehirne zu geringeren Leistungen befähigt sind als große. Sieht man sich ein Tier wie die Honigbiene an, dann kann sich das weder auf die sensorischen noch die motorischen Leistungen beziehen. Auch die Lernfähigkeit und die Gedächtnisbildung liefern keinen Anhaltspunkt dafür, dass dieses kleine Gehirn zurückstehen muss. Ein Maß für die Leistungen eines Gehirns könnte sich auf die Frage beziehen, welches Wissen dieses Gehirn über die Welt hat und wie es dies für die Planungen seiner Aktionen einsetzt. Gibt es Hinweise darauf, dass Bienen planen und zwischen Möglichkeiten aufgrund ihrer Erfahrung entscheiden ohne Zugang zu den leitenden Signalen zu haben? Diese Frage wird im Zusammenhang mit der Navigation und der sozialen Kommunikation gestellt. Es soll gezeigt werden, dass es berechtigt ist von impliziten Formen des Planens, Erwartens und Entscheidens zu sprechen, und dass es darauf ankommen wird, die Grenzen dieser Fähigkeiten auszuloten.
Intelligenz ohne Cortex. Evolution der Kognition bei Vögeln
Prof. Dr. Dr. h.c. Onur Güntürkün, Fakultät für Psychologie / Biopsychologie, Ruhr-Universität Bochum
Sowohl Säugetiere als auch Vögel zeigen trotz radikal unterschiedlicher
Hirnaufbauten ähnliche kognitive Leistungsfähigkeiten. Das bedeutet,
dass verschieden strukturierte Gehirne ähnliche Leistungen bringen
können. Wenn man sich aber die neuralen Mechanismen, mit denen
kognitive Prozesse erzeugt werden, im Detail anschaut, erkennt man
Ähnlichkeiten zwischen Vögeln und Säugetieren. Das bedeutet, dass sich im
Verlauf der Evolution sehr viele Freiheitsgrade in der Makrostruktur
des Gehirns ergeben haben. Die Mikrostruktur der neuronalen Schaltkreise scheint
aber weniger Variationsmöglichkeiten zu bieten, sodass Vögel und
Säugetiere auf ähnliche Lösungen konvergieren.
Ab 20 Uhr: Podiumsdiskussion
Moderation: Hartmut Wewetzer, Der Tagesspiegel.
Der Eintritt ist frei. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich.