Steinort, 12. September 1800

Du hast von mir verlangt, lieber Carl, dass ich Dich wecken soll, sobald ich merke, dass Du wieder in deine gefährliche Schlafsucht zurückfällst. Da wir nun seit zwei Posttagen durch andere Deine Ankunft in Berlin und Potsdam erfahren, so sehe ich daraus, dass es hohe Zeit ist, Dich zu rütteln und zu schütteln. Ermanne Dich, ich bitte Dich darum, noch ist es Zeit! Hättest Du gehört, was noch heute die Herzogin alles gesagt hat über schreibende und nicht schreibende Leute, Du würdest wahrlich nicht zu der letzten Klasse gehören wollen. Sie hatte aber einen Brief von ihrer Tochter erhalten (schon den zweiten seitdem sie hier ist), und in dem Erguss ihrer Freude darüber äußerte sie lebhaft ihre Verachtung für die laue Freundschaft und Anhänglichkeit derjenigen, für denen Nachricht geben und erhalten kein Bedürfnis ist, und die da vorgeben, sie könnten herzlich lieben ohne es zu sagen und ohne Mitteilung zu bedürfen. Auf einmal fiel es ihr ein, dass Du ein solcher Mann bist. Sie bat mich tausendmal um Verzeihung, diesen Punkt berührt zu haben. Sie konnte aber und wollte das Gesagte nicht wieder zurücknehmen. Ich sagte ihr, dass es auch Gottlob auf Dich nicht mehr passend wäre, indem Du schon seit Deiner Abreise von hier dreimal geschrieben, worüber sie sich dann herzlich freute und Dir ihre Auffassung zuerkannte.

Unsere jetzige Lebensart ist sehr angenehm. Wir frühstücken zusammen um 7 Uhr morgens. Von 8 bis 10 lesen wir die herrlichsten vernünftigsten vortrefflichsten  Vgl. zu diesem Friedrich Carl Gottlob Hirsching's Historisch-Litterarisches Handbuch berühmter und denkwürdiger Personen, welche in dem achtzehnten Jahrhundert gelebt haben ..., Bd. 16, 1. Abt., Leipzig 1813, S. 39 f. mit einer Übersicht von dessen Werken.
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Predigten von Wedack, einem kürzlich verstorbenen Prediger in Leipzig,
eine Lektüre, die ich Dir von ganzem Herzen wünsche und empfehle. Noch nie habe ich solche aufgeklärte und befriedigende Betrachtungen über Religion gehört oder gelesen. Dieser Mann bringt die Begriffe über diesen Gegenstand recht aufs Reine und kommt jedem Zweifel, jeder Einwendung entgegen. Viel, sehr viel gäbe ich darum, wenn Du die zwei Stunden, die wir dieser Lektüre widmen, zugegen sein könntest. Von 10 bis halb 2 tut ein jeder sein Geschäft. Pauline lebt alsdann für ihre  Gemeint sind die Söhne August, Louis und der gerade geborene dritte Sohn Emil; er wurde nur 7 Jahre alt.
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Kinder
, nachdem der herrliche Wedack sie und einen jeden von uns zu unseren Pflichten gestärkt hat. Nachmittags wird spazieren gefahren oder gegangen. Das  Zeit der Abenddämmerung
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entre chien et loup
wird wieder ganz den Kindern gewidmet und woran dann die gute  Wahrscheinlich Henriette Luise von Holstein-Sonderburg-Beck (1783-1803). Sie heiratete 1803 dem Prinzen Ferdinand von Anhalt-Köthen-Pless.
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Prinzess Henriette
auch teilnimmt und die Kinder amüsieren hilft. Denn dies ist die unangenehmste Zeit für die Kinder, weil sie alsdann schon schläfrig und daher übler Laune sind, bis ihre Suppe und die geliebte Schlafstunde kommt. Dann kommt für uns wieder eine interessante Epoche, wir lesen nämlich den übrigen Abend den Journal der Herzogin, den sie  Gemeint ist die Herzogin Friederike von Holstein-Beck, geb. Gräfin von Schlieben. Sie hatte 1799 gemeinsam mit dem Herzog Friedrich Karl Ludwig und ihren Töchtern Friederike und Luise Schlesien, Sachsen und Böhmen bereist.
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während ihrer Reise
gemacht, der äußerst belehrend und angenehm ist. Zur rabouge bleibt gar keine Zeit. Sie wird aber bald wieder en vogue kommen, denn wir erwarten Sonntag die  Die verwitwete Gräfin Marie Karoline von Schlieben, ältere Schwester der Herzogin Friederike und Witwe von Friedrich Wilhelm Ernst Graf von Schlieben-Birkenfeld.
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Majorin
und bald darauf Dohna von Lauck. Dies wird eine Veränderung in unserer Lebensart machen. Zum Glück endigen wir heute den Journal, denn es wäre mir höchst unangenehm gewesen, wenn wie diesen den neuen Gästen hätten opfern müssen. Den Wedack können wir unter allen Umständen fortsetzen, denn wir lesen ihn zu einer Zeit, wo es für den guten Dohna noch nicht Tag ist.

Sonst ist nichts Neues. Der Probst ist gestern hier gewesen um  Siehe die Erläuterung im vorigen Absatz.
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Pauline und ihre drei Helden
zu sehen.  Vgl. Sembritzki, Johannes, (Art.) Graf August von Lehndorff in Westpreußen, in: Mitteilungen des Westpreußischen Geschichtsvereins 11 (1912), S. 4-12.
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Wir haben erfahren, dass der Doktor Lehndorff schon seit Jahr und Tag bei seiner Schwester Fock in Statzen sich aufhält und immer nach seiner Gräfin Krockow seufzt.
Dein Vater hat an ihn geschrieben, vielleicht, um ihn zu laden. Dies würde mich sehr amüsieren. Nun lebe wohl, lieber Carl, ich danke Dir für die drei Briefe, die wir von Dir erhalten, und bitte Dich aus allen Kräften, die Deinigen anzustrengen und nicht zu ermüden. Die Herzogin grüßt Dich freundlichst wie auch Prinzess Henriette. Pauline umarmt Dich. Die Kinder küssen Dir die Hände und sind zwanzigmal am Tage artig und allerliebst und eben so oft unartig und unausstehlich. Das ist immer die allgemeine Kindergeschichte.

Lebe wohl und schreibe Deine treue Mutter Lehndorff

Ich verlange keinen Brief für mich insbesondere, sondern nur im allgemeinen.

Zitierhinweis

Amalie Caroline Gräfin von Lehndorff an ihren Sohn Carl Friedrich Ludwig. Steinort, 12. September 1800. In: Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Bearbeitet von Gaby Huch. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. URL: lebenswelten-lehndorff.bbaw.de/lehndorff_hbb_df1_hy