z. Zt. Gastein, den 19. Juli 1874

Großmächtigster Kaiser und König!
Allergnädigster Kaiser, König und Herr!

Euer Kaiserliche und Königliche Majestät wollen allergnädigst gestatten, dass ich eine Bitte an das Landesväterliche Herz Euer Majestät zu richten wage, welche seit langen Jahre der brennende Wunsch meiner Seele gewesen ist.

Seit den schweren Zeiten, die Eure Majestät in Höchstdero Jugend mit Eurer Majestät Höchstseligen Eltern in unseren heimischen Provinzen verlebt, wo dieselben Gut und Blut für König und Vaterland opfern durften, hat sich der Adel kaum wieder emporarbeiten können, und viele Eltern sind außerstande gewesen, ihren Töchtern ein sorgenfreies Alter zu sichern. Fast seit fünfzehn Jahren hat sich die Provinz als solche von den Drangsalen des ersten Viertels dieses Jahrhunderts zu erholen angefangen, aber für die unversorgten Töchter unseres Adels konnte nichts geschehen, da unsere Provinz ganz besonders arm an Fräuleinstiften ist, wie sie die anderen Provinzen der Monarchie besitzen.

Darum sann ich seit langen Jahren darüber nach, wie ihnen ein Asyl bereitet werden könnte, wo sie ein Heim und eine ihrem Stande angemessene Tätigkeit finden dürften.

Der Stiftsgedanke nun, den ich Euer Majestät zu unterbreiten wage, entspricht, wie ihn ähnlich auch Seine Majestät der Hochselige König für alle Prinzen der Monarchie ausgeführt zu sehen wünschte, wie ich zu hoffen mich   Unleserliche Stelle [...] , auch den Landesväterlichen Gedanken Eurer Kaiserlichen und Königlichen Majestät.

Denn diese Stätte soll nicht trägem Genusse, sondern, dem Familienkreise nachgebildet, allseitiger Tätigkeit der Stiftsfräulein dienen und Eurer Majestät Edelfräulein der Provinzen Ost- und Westpreußen sollen dem edelsten Motto des christlichen Adels gemäß: „Ich diene‟ ihr Leben selbstloser Arbeit in Werken christlicher Barmherzigkeit weihen.

Darum wagt mein Herz auf Euer Majestät allergnädigste Genehmigung der Gründung eines solchen Stiftes zu hoffen, und indem Euer Majestät einen allergnädigsten Beitrag gewähren, damit zugleich den Adel unserer Provinz angefeuert zu sehen, diesen Gedanken bald ins Leben zu rufen.

Zu meiner dankbarsten Freude erweckt Gott der Herr viele Herzen für diese Idee, und wenn Euer Majestät Höchstihr Wohlgefallen derselben ausdrücken, dann kann ich hoffen, dass binnen kurzem der Grund gelegt werden dürfte zu einem Bau, der zur Ehre Gottes, zur Freude Euer Majestät Landesväterlichem Herzen, zum Segen unseres Adels und zum Wohle vieler Armer und Verlassener in unserer Provinz ausgeführt werden würde! Das walte Gott!

Ich ersterbe meines allergnädigsten Kaisers und Königs alleruntertänigste Anna Gräfin Lehndorff
geb. Gräfin Hahn

Zitierhinweis

Anna Gräfin von Lehndorff an Kaiser Wilhelm I. Gastein, 19. Juli 1874. In: Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Bearbeitet von Gaby Huch. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. URL: lebenswelten-lehndorff.bbaw.de/lehndorff_py4_fxk_ycb