Wien, den 20. November 1814
Teuerste Mutter!Er habe ihr lange nicht schreiben können und sende ihr deshalb eine Übersicht seines Lebens und Webens seit mehr als 6 Monaten, in denen Sie nichts von ihm erfahren habe. Editorische Auslassung [...]
Es sei doch letztendlich alles zum Besten geleitet worden,
so dass wir bald nachher, statt vernichtet zu werden, glorreich in
Paris einzogen. Ruhe und Glück
folgten dem Sturm. Zum
Aufenthalt in London vom 8. bis 26. Juni 1814: Schultze, Lebensbild, S.
575 f. Lehndorff wohnte im Hotel Leicester Square.
[Schließen]Nach einem kurzen Aufenthalt in
Paris erhielt ich einen Auftrag in Bezug der von Engelland erhaltenen
Subsidien, der mich nach London führte. Kaum
von dort zurückgekehrt, organisierte ich die Reise des Königs und des Kaisers nach diesem wahren Europäischen Eldorado. Mein damaliger
Prinzipal, der General von Yorck,
wurde zu dieser Reise genannt; er wünschte, dass ich ihn begleiten möge. Ich
ließ mich, wie Sie sich leicht denken könne, nicht lange nötigen, und ging zum
2. Mal nach diesem höchst interessanten Lande. Die Details dieser Reise
überschreiten den Raum eines Briefes, und ich spare sie mir auf für den
belohnenden Augenblick, wo die süße Rückerinnerung des Vergangenen die Mängel
der Gegenwart verlöschend mir den Genuss dieser Beschreibungen gewähren
wird.
Mein dienstliches Verhältnis führte mich endlich nach Aachen zurück, wo unser Hauptquartier war.
Die übernatürlichen Anstrengungen des überstandenen Feldzuges und die
Überbleibsel einer im vergangenen Winter auch aus dieser Quelle geschöpften
Nervenkrankheit hatten meine Gesundheit angegriffen und eine Reihe von
Verkältungen saß mir in den Gliedern. Zudem hatte eine bei der Armee epidemisch
gewordene Augenkrankheit, verursacht durch das Sehen in die Bivouacfeuer, meine
Augen so angegriffen, dass ich nächst den empfindlichsten Augenschmerzen fast
die traurige Überzeugung hegte, blind zu werden. Die wohltätigen Aachener Bäder
und ein Vgl. GStA PK, XX. HA, Rep.
54 Gutsarchiv Lehndorff-Steinort, Nr. 896 (Untersuchungsbericht des
Arztes Dr. Bongard, Aachen, über die Erkrankung und Behandlung des
linken Auges, 1814).
[Schließen]berühmter Augenarzt, der sich im nahen
Düsseldorf
aufhielt, gewährten mir die Hoffnung, von beiden
Übeln geheilt zu werden. Ich badete dort sechs Wochen lang mit gutem Erfolgt und
wusch mir alle Rheumatismen und Dependenzen rein heraus. Nicht so glücklich geht
es mir mit meinen Augen. Trotz der strengsten Sorgfalt, die mir in dieser ganzen
Zeit alles Lesen und Schreiben verbot, welches auch unserer Korrespondenz zum
Nachteil gereichte, wurden diese nur unvollkommen hergestellt, und noch heute
werde ich häufig bitter daran gemahnt. Editorische Auslassung [...]
Wie Gott
will! denke und sage ich jetzt immer bei jeder Besorgnis, bei jeder ungewohnten
Alternative. Denn die letzten 2 Jahre haben mich so gläubig und ich möchte
sagen, in Hinsicht der Bestimmung, so orthodox gemacht, als es die ganze
geistliche Fakultät von Europa in 10 Jahren wahrlich nicht hätte bewirken
können.
Zum Teil wiederhergestellt also bot sich mir durch die Aufforderung der Aus der
Dienstzeit in Potsdam war Lehndorff mit General von Hünerbein
bekannt.
[Schließen]Familie Hünerbein
, die in Aachen war, eine Gelegenheit dar, Holland zu sehen. Ich reiste mit dieser über
Brüssel, Antwerpen, den Hag nach Amsterdam, sah das berühmte Nordholland, machte mit dem General
Hünerbein mehrere kleine
Seitenreisen zur mehren Kenntnis des Landes und seiner Fabriken, welche mir
durch die Begleitung dieses über diese Gegenstände sehr instruierten Mannes
ebenso interessant als lehrreich geworden sind. Endlich kam ich nach Aachen zurück mit dem festen Vorsatz, den
unterdessen erhaltenen Urlaub nach meinem guten alten verwaisten Vaterlande
anzutreten. Im Augenblicke meiner Abreise fast fand sich durch einen Auftrag des
unsere Rhein-Armee kommandierenden v.
Kleist eine Veranlassung, die mich auf eine wenig Kosten
erfordernde Art nach Wien führte, wo
gerade jetzt durch die Operationen des
Wiener
Kongress
[Schließen]Kongresses sich beinahe das Interesse von ganz
Europa vereinigt. Ich hielt es für einen Fingerzeig meiner Bestimmung, wollte
diese Saat künftiger Reminiszenzen für meine vielleicht sehr einförmige Zukunft
nicht von mir weisen, und bin seit beinahe 6 Wochen hier in der gespannten
Erwartung der großen Resultate, die zu erwarten oder doch wenigstens
vorauszusetzen sind. Bis dato bin ich noch in meinen Erwartungen nicht
befriedigt worden. Die Tollheiten und Menschensetzungen, die hier vorgehen,
übersteigen wirklich alle Beschreibung und ich fürchte sehr, dass am Ende es der
Berg sein wird, der mit der Maus niederkommt, oder vielleicht noch schlimmer mit
einer Missgeburt, die wieder der Keim manchen Unheils und Blutvergießens werden
wird. - Wie Gott will!
Was mich selbst betrifft, so gehe ich entschieden in wenigen Tagen hier ab, bleibe eine kurze Zeit in Berlin, um meine dasigen kleinen Geschäfte zu regulieren, und wenn es möglich ist, in Betreff des Hauses etwas zu tun, und bin gewiss zu Ende des Jahres bei Ihnen im guten Vaterlande. Schon gewährt mir das Bild der ruhig stillen Winterabende am traulichen Kamin zu Steinort im wohlverwahrten Tapetenzimmer, unterdessen der Sturm und Schnee mit den alten Eichenästen im Garten sein brausend Wesen treibt, unterdessen ich Gott danke, nicht wie voriges Jahr in dieser Zeit draußen zu bivouacquieren, eine liebe frohe Aussicht. Möge sie mir nicht wie die mehrsten schönen Bilder meiner Hoffnung vereitelt werden. Über meine ferne Zukunft habe ich noch keinen Plan gemacht. Ich formiere kein Projekt mehr, weil ich aus Erfahrungen weiß, dass es fast nie erfüllt wird. Meinen Abschied habe ich noch nicht genommen, so sehr auch ich es zu tun wünschte, um erst zu sehen, wie es dem armen, so stiefmütterlich behandelten Vaterlande geht. - Meine Lieben, Heinrich, Dönhoff und wer noch in Freundschaft sich meiner erinnert, grüßen Sie doch herzlich, wenn Sie schreiben. Dem guten Berent bitte ich Sie doch herzlich diesen Brief zu kommunizieren, dass er auch etwas von mir hört, weil ich ihm jetzt nicht schreibe. Sagen Sie ihm doch, dass er mir von Weihnachten ab eine warme Stube aufbewahre.
Gottes Segen über Sie, meine teure Mutter C. LehndorffZitierhinweis