Gumbinnen, den 28. Februar 1872

In der am 8. v. Mts. hierselbst stattgehabten Generalversammlung unseres Vereins sind mehrfache Missstände, welche in diesseitiger Provinz bei den niederen Ständen sehr häufig angetroffen wurden, besprochen worden; es sind dies besonders Trunkenheit, Faulheit und Rohheit. Als häufigste Veranlassung zu diesen Untugenden, welche die wirtschaftlichen und Familienverhältnisse untergraben, wurde die mangelhafte, häufig namentlich bei Waisenkindern ganz fehlende häusliche Erziehung anerkannt, und deshalb als ein Mittel zur Abhilfe die Anlegung von Waisenhäusern empfohlen. Auch wurde bemerkt, dass das weibliche Geschlecht auf dem platten Land in den gewöhnlichsten und notwendigsten häuslichen weiblichen Arbeiten als Nähen, Stricken, Flicken pp. oft ganz unerfahren ist, was zu Müßiggang und Trägheit verleite.

Es wurde deshalb der Beschluss gefasst, alle Kreis- und Lokal-Frauen-Vereine auf das dringendste zu ersuchen, in deren resp. Wirkungskreisen noch keine Waisenhäuser vorhanden sind, sich die Gründung solcher recht angelegen sein zu lassen. Der Central-Frauen-Verein hat bisher fast für jedes Waisenhaus, welches in unserem Bezirke gegründet worden, ansehnliche Beihilfen nicht unter 1.000 Rtlr. hergegeben, und wir würden in jedem an uns herantretenden bezüglichen Falle unsere Vermittlung zur Erlangung der erwähnten Beihilfen gern gewähren.

Es wurde ferner beschlossen, die geehrten Damen der Kreis- und Lokalvereine zu ersuchen, wo es irgend ausführbar erscheint, sich der Unterrichtung der weiblichen Jugend in den auch auf dem Lande nicht zu entbehrenden Handarbeiten pp. freundlich zu unterziehen und sie so an Fleiß und Ordnungsliebe zu gewöhnen.

In welcher Weise dies am geeignetesten geschehen kann, lässt sich generell nicht angeben, dies kann vielmehr selbstredend nur dem Ermessen derjenigen Damen, welche in dieser Weise ihre Tätigkeit zum Segen der Jugend entfalten, überlassen bleiben.

Indem wir den geehrten Vereinen diese Mitteilung machen, ersuchen wir dieselben ganz ergebenst, uns ihre Ansichten über die vorberegten Fragen sowie ihre Entschließungen betreffs Ausführung der angedeuteten Maßregeln zur Abhilfe der vorhandenen Missstände seinerzeit gefälligst mitteilen zu wollen.

Wir schließen mit der Versicherung unserer ausgezeichnetesten Hochachtung Der Vorstand des Vaterländischen Bezirks-Frauen-Vereins
Ida von Puttkamer, geb. von Puttkamer
v. Raupach Richard Rose

Circulaire
an sämtliche Kreis- und Lokal-Frauen-Vereine des Bezirks

Zitierhinweis

Der Vorstand des Frauen-Vereins Gumbinnen an Anna Gräfin von Lehndorff. Gumbinnen, 28. Februar 1872. In: Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Bearbeitet von Gaby Huch. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. URL: lebenswelten-lehndorff.bbaw.de/lehndorff_zxr_r2q_ycb