Leibniz-Objekt des Monats
November 2016: Leibniz über William Penn und sein Tagebuch
William Penns Reise in Deutschland und den Niederlanden
Der berühmte Quäker und Gründer der Kolonie Pennsylvania, William Penn (1644-1718), hatte 1677 die Niederlande und Deutschland bereist, um für seine Art des Christentums zu werben. Als religiöser Dissident konnte er dabei nicht öffentlich auftreten, sondern suchte heimlich den Kontakt zu Gleichgesinnten, immer von der Ausweisung durch die Obrigkeit bedroht. Er wurde von Ort zu Ort an vertrauenswürdige Zirkel und Einzelpersonen weiterempfohlen, so dass er sich in einem Netzwerk religiöser Dissidenz bewegte. Dieses bestand zumeist aus einfachen Leuten. Eine Ausnahme bildete sein Aufenthalt im reichsunmittelbaren freiweltlichen Damenstift Herford, das zu dieser Zeit seit gut hundert Jahren lutherisch war. Die Herforder Fürstäbtissin Elisabeth von der Pfalz (1618-1680) gehörte als Tochter des Pfälzischen Kurfürsten und böhmischen 'Winterkönigs' Friedrich V. (1596-1632) und Enkelin des englischen Königs Jakob I. (1566-1625) zur Spitze der europäischen Aristokratie.
Abbildung: William Penn, Künstler unbekannt [Public domain], via Wikimedia Commons
Elisabeth teilte mit ihrer Schwester, der Kurfürstin Sophie in Hannover, und mit ihrer Nichte Sophie Charlotte, der späteren ersten Königin in Preußen, das Interesse an philosophischen Fragen, ja, sie war die gebildetste von den dreien. Bereits seit 1640 hatte sie engen Kontakt zu René Descartes gepflegt, der ihr seine Principia philosophiae gewidmet hat. Zugleich muss sie wie Sophie und Sophie Charlotte einen Hang zu Gestalten wie Penn besessen haben, die sich jenseits der religiösen und intellektuellen Orthodoxie bewegten. So war es kein Zufall, dass William Penn sie in Herford besuchte. Er konnte dort eine sorglose Zeit verbringen, denn die Obrigkeit hielt in Person der Fürstäbtissin ihre schützende Hand über ihn. Es ist daher kein Wunder, dass der Aufenthalt dort einen prominenten Platz in Penns Tagebuch einnimmt, das er während dieser Reise geführt hat.
Abbildung: Elisabeth von der Pfalz (1636), Portrait von Gerrit van Honthorst [Public domain], via Wikimedia Commons
Leibniz und Penns Reisetagebuch
Knapp zwanzig Jahre nach der Reise hat Penn sein Tagebuch 1694 im Druck veröffentlicht. Eine Neuauflage aus dem folgenden Jahr ist Anfang 1696 an den Hof in Hannover gelangt. Es war vermutlich Penn selbst, der das Werk an die Kurfürstin Sophie nach Hannover geschickt hat, und es war wohl die prominente Rolle ihrer mittlerweile verstorbenen Schwester Elisabeth im Tagebuch, die dazu den Anlass gegeben hat. Dieses Exemplar scheint nicht mehr erhalten zu sein, aber die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover bewahrt ein Widmungsexemplar desselben Drucks für die Gräfin Anna Maria von Horn. Ihr war Penn knapp zwanzig Jahre zuvor unter den Stiftsdamen in Herford begegnet, und das damals noch junge Mädchen hatte einen bleibenden Eindruck bei dem prominenten Quäker hinterlassen.
Abbildung: Titelblatt von Penns Reisetagebuch, GWLB Hannover, CIM 2/74.
Jedenfalls fand Penns Reisetagebuch großes Interesse am Hof, besonders natürlich bei der Kurfürstin Sophie. Leibniz hat – sicherlich für die Hofgesellschaft, wohl weniger für Sophie selbst, die Englisch verstand – eine französische zusammenfassende Übersetzung des englischen Textes angefertigt. Wie ein Blick auf das Manuskript zeigt, hat er zunächst nur die linke Hälfte der Seite beschriftet, 'halbbrüchig', wie man das nennt. Dadurch stand die rechte Hälfte als breiter Korrekturrand zur Verfügung. Am Ende der Seite rückt der Text jedoch weit in die rechte Hälfte hinein, und das setzt sich auf den übrigen Seiten des Bogens fort, die von Anfang an den Korrekturrand viel schmaler bemessen. Auf das, was Leibniz auf den Korrekturrand der ersten Seite notiert und dann durchgestrichen hat, wird noch zurückzukommen sein.
Abbildung: DIe erste Seite von Leibniz' Konzept, © GWLB Hannover, LH I 5,3 Bl. 1r.
Er scheint zu dieser Zeit gerade sehr knapp mit Schreibpapier ausgestattet gewesen zu sein. Das zeigt sich vor allem an Partien, die in fast mikroskopisch kleiner Schrift auf dem linken Rand der letzten Seite des Bogens quer zum Rest des Textes notiert sind und von dort zurückkehrend auf die Anfangsseite ebenfalls quer zum Text auf dem oberen und dem linken Rand stehen. Hier reichen sie sogar teilweise in den ursprünglichen Text hinein, der deshalb am Anfang nur noch schwer zu entziffern ist.
Abbildung: Der Beginn von Leibniz' Konzept, © GWLB Hannover, LH I 5,3 Bl. 1r (Ausschnitt).
Aber wer sollte das noch lesen können? So sah sich Leibniz gezwungen, doch noch einen weiteren Papierbogen zu nehmen. Einen leeren scheint er aber nicht zur Hand gehabt zu haben, denn der Bogen, auf dem er seine Übersetzung fortsetzte (übrigens indem er die allzu klein auf die Ränder gequetschten Passagen noch einmal neu formulierte und leserlicher schrieb), hatte schon einem anderen Zweck gedient. Quer über die zweite und dritte Seite dieses zweiten Bogens hinweg ist nämlich im unteren Seitendrittel ein Stammbaum skizziert. Er läuft auf die beiden Schwestern Charlotte Felicitas (1671-1710) und Wilhelmine Amalie (1673-1742) zu, Töchter von Herzog Johann Friedrich (1625-1679), Leibniz' erstem Dienstherrn in Hannover. Beide standen in dieser Zeit im Fokus von Heiratsprojekten. Die ältere war Ende November 1695 mit Herzog Rinaldo III. von Modena vermählt worden, womit die mittelalterliche Verbindung des Welfenhauses mit dem Hause Este erneut geknüpft wurde. Das Ehebündnis wurde von Leibniz publizistisch gefeiert, war er es doch gewesen, der den genealogischen Zusammenhang der beiden Familien, der nun aktualisiert wurde, aus den Quellen nachgewiesen hatte. Die jüngere Schwester musste länger warten, aber ihre Ehe war politisch ungleich bedeutender, konnte sie doch 1699 den Kaisersohn Joseph heiraten.
Abbildung: Der Stammbaum auf © GWLB Hannover, LH I 5,3 Bl. 3v-4r (Ausschnitt).
Aus eins mach zwei
Doch zurück zu Leibniz' Übersetzung von William Penns Reisetagebuch und zur ersten Seite des Manuskripts. Um die komplizierten Zusammenhänge sichtbar zu machen, sind in der folgenden Abbildung die unterschiedlichen Textblöcke farbig markiert und nummeriert. Aus dem (Haupt-)Text auf der linken Seite scheint nach rechts geradezu ein zweiter Text herauszuwachsen, der den Korrekturrand ausfüllt. Tatsächlich spaltet sich der ursprüngliche Text hier auf. Links setzt nach der Aufnahme des englischen Titels die zusammenfassende französische Übersetzung des Tagebuchs ein (1), rechts formuliert Leibniz einen Kommentar zu dem, was er in Penns Tagebuch gelesen hat (2-5). Er übernimmt zunächst den später nicht in deren Reinschrift übernommenen Anfang der Übersetzung (2, Beginn von 5). Durch zwei Einschübe in deutlich kleinerer Schrift (3 und 4) formuliert er den Beginn des Kommentars noch einmal um. Ein Wort ("me"; gelb hinterlegt) muss dabei sogar doppelt gelesen werden, weil mit ihm sowohl der Textblock (3) als auch der Textblock (5) beginnen. Nicht markiert ist der querstehende Text in der linken Hälfte, der ebenfalls zur Übersetzung (1) gehört, jedoch nicht zu ihrem Anfang.
Abbildung: Der Beginn von Leibniz' Konzept mit Umzeichnung der einzelnen Textblöcke, © GWLB Hannover, LH I 5,3 Bl. 1r (Ausschnitt) / Leibniz-Edition Potsdam.
Was dieses Manuskript des Konzepts nicht verrät, zeigen uns zwei Reinschriften: nämlich dass die Aufspaltung des ursprünglichen Textes ganz wörtlich zu nehmen ist. Die eine Reinschrift bietet nur die Übersetzung. Die Schreiberhand beginnt erst im letzten Drittel der Seite, vielleicht um einen großen Respektsraum freizulassen, wie man das in Schreiben an hochgestellte Adressaten zu tun pflegte, oder auch nur weil Leibniz noch einen Anfang ergänzen wollte, denn die Reinschrift lässt den Beginn des Konzepts aus, bevor sie etwa im letzten Drittel der ersten Konzeptseite einsetzt, wo ein deutlich erkennbarer Haken den Einsatz für den Schreiber markiert. Der Reinschrift hat Leibniz schließlich eigenhändig einen Hinweis auf die Vorlage vorangestellt, allerdings nicht, indem er wie im Konzept den englischen Titel abgeschrieben und mit genauen bibliographischen Angaben versehen hat, sondern als knappe französische Paraphrase.
Abbildung: Die Reinschrift der Übersetzung. Die Überschrift von Leibniz' Hand, der übrige Text von Schreiberhand mit Korrekturen und Ergänzungen von Leibniz, © GWLB Hannover, LH I 5,3 Bl. 7r.
Erst an das Ende seiner Übersetzung hat er einige Bemerkungen zu dem Werk angefügt, die deutlich kürzer sind als das, was auf der ersten Seite des Konzepts gestrichen ist. In diesem Fall meint die Streichung jedoch nicht, dass Leibniz seinen ursprünglichen Kommentar verworfen hätte. Sie sollte wohl dem Kopisten anzeigen, dass diese Partien in der Reinschrift der Übersetzung ausgelassen werden sollten. Stattdessen hat Leibniz selbst sie ins Reine geschrieben – ohne die Übersetzung. (Wie man es von ihm kennt, ist diese Reinschrift nicht wirklich 'rein', denn er hat bis zum Schluss in seinen Texten herumkorrigiert.)
Abbildung: Die eigenhändige, mehrfach korrigierte Reinschrift des Kommentars, © GWLB Hannover, LH I 5,3 Bl. 5r.
Klartext im Konzept – Diplomatie in der Reinschrift
Aber warum hat Leibniz die ursprüngliche Einheit von Übersetzung und Kommentar aufgelöst, der Übersetzung nur ein paar Bemerkungen angehängt und den eigentlichen Kommentar sorgfältig davon getrennt? Die Antwort muss wohl lauten: Weil er das freundliche Interesse der beiden Schwestern, Elisabeth in Herford und Sophie in Hannover, an dem prominenten Quäker nicht teilte. Interesse hatte er schon, aber es war nicht freundlich – im Gegenteil: In einer geradezu religionspsychologischen Beobachtung, die ihre Belege vor allem aus der Sprache von Penns Tagebuch nimmt, wirft er den Quäkern vor, sie wollten zwar den Aposteln und ersten Christen nacheifern, aber wo diese einfach und klar gepredigt hatten, sei das Tagebuch „mit viel Künstelei und Vorbehalt geschrieben, in gesuchten und geheimnisvollen Worten, die ein bisschen zu sehr nach Intrige und der Abschicht zu regieren schmecken". Kurz: Er sieht bei ihnen eher emotionale Manipulation als schlichte Frömmigkeit.
So lautet seine Einschätzung jedenfalls in dem von der Übersetzung abgespaltenen Kommentar. In den kurzen Bemerkungen, die er statt dieses Kommentars an die Übersetzung angehängt hat und die geeignet sein sollten, am Hof gelesen oder vorgetragen zu werden, klingt das anders. Nicht, dass er hier Zustimmung heuchelte, aber der ganze Tonfall ist verständnisvoller und dort, wo Leibniz Kritik übt, zurückhaltender. Diese auffällige Änderung lässt sich nicht nur zwischen den beiden Texten beobachten, sondern auch in der Entstehung der einzelnen Texte. Das Konzept erlaubt es uns ja, Leibniz beim Schreiben gewissermaßen über die Schulter zu sehen. Im Entwurf des nachher ausgegliederten Kommentars spricht er im Blick auf die Quäker abschätzig von "diesen neuen Aposteln". Die Formulierung hat er dort zwar nicht wieder gestrichen, aber dann doch nicht in die selbst angefertigte Reinschrift übernommen. Auch im Konzept der Übersetzung ist ihm diese abschätzige Charakterisierung in den kurzen abschließenden Bemerkungen in die Feder geflossen. Hier hat er sie jedoch schnell verworfen, um neutral von den "neuen Predigern" zu sprechen. Der textkritische Apparat der Ausgabe rekonstruiert diese Textgenese, um sie für all jene nachvollziehbar zu machen, die weder Zugang zum Manuskript haben, noch es überhaupt entziffern könnten. Eine derartige Stelle zeigt auch, dass die Reinschriften nicht nur optisch viel langweiliger sind als die Konzepte, sondern häufig auch inhaltlich, wenn sie spontan niedergeschriebene Meinungen unterdrücken oder jedenfalls diplomatisch entschärfen.
Abbildung: Leibniz ersetzt im Konzept "nouveaux Apostres" durch "nouveaux predicateurs", © GWLB Hannover, LH I 5,3 Bl. 4v (Ausschnitt).
Leibniz' Ablehnung der quäkerischen Position ist übrigens kein theologisch-konfessioneller Konservativismus oder gar eine bloße 'Geschmacksfrage'. Vielmehr führt sie in den Kern seines Denkens: Die wahre Liebe beruht für Leibniz auf der Erkenntnis der Schönheit und der Güte des Geliebten. Die Vollkommenheit Gottes, die ihn so liebenswert macht, zeigt sich jedoch in seinen Werken. Die wissenschaftliche Erforschung der Natur führt also nicht – wie viele meinen – zu Skeptizismus und Atheismus, sondern im Gegenteil zu umso größerer Verehrung Gottes, da seine Werke in der Natur in ihrer Größe mehr und mehr erforscht und erkannt werden. Deshalb lehnt Leibniz jede Religiosität ab, die unter Missachtung des Verstandes auf das Gefühl setzt, an das William Penn so meisterhaft appelliert hat.
Die vorgestellte Übersetzung des Tagebuchs ist ediert in: Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, Reihe IV: Politische Schriften, Bd. 6: 1695-1697, Berlin 2008, N. 51, S. 339-360, Leibniz' Kommentar dazu ebd., N. 52, S. 360-365, und die Genealogie ebd., N. 4, S. 28-31 (online: http://leibniz-potsdam.bbaw.de/bilder/IV6text.pdf)
Autor: Stephan Waldhoff, Leibniz-Edition Potsdam der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
Online-Projekt „Leibniz-Objekt des Monats“:
Das Projekt „Leibniz-Objekt des Monats“ stellt mit Expertenbeiträgen über das Leibniz-Jahr 2016 hinweg jeden Monat ein Archivale oder eine Handschrift vor. Ziel ist es, einerseits die grundlegende Bedeutung von Leibniz für die Akademiegeschichte herauszustellen und andererseits die Arbeit „an Leibniz“ sichtbar zu machen, die tagtäglich an der Akademie stattfindet. Die gezeigten „Objekte“ zeichnen in ihrer Gesamtheit ein ganz eigenes Bild vom Leben und Wirken des großen Visionärs.