Odessa, 4. Oktober 1876

Meine geliebte und verehrte Frau Gräfin.

Aufgrund einer Erkältung habe sie nicht früher schreiben können. Sie denke gern an den  Siehe den Brief aus Eaton vom 9. April 1876 in: APO, Bestand 382 FA Lehndorff, Nr. 521, Bl. 28-29. Sie habe durch einen Brief aus Stargard erfahren, dass sie nach Steinort eingeladen sei, „als Sie von meiner Reise nach Deutschland hörten“. Graf Borcke habe ihr geschrieben, dass jetzt der direkte Weg nach Odessa über Königsberg gehe, „so dass, wenn Sie mich Anfang oder Mitte Oktober in Steinort haben könnten, ich sehr glücklich darüber sein würde.“
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Aufenthalt in Steinort
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  Editorische Auslassung [...] Hier bin ich nun, nach einer ermüdenden, dennoch nicht sehr beschwerlichen Reise. Mir wurde etwas wehmütig zumute, als ich mich nun wirklich auf russischem Boden befand. Die unermesslichen Ebenen, selten von weit sich erstreckenden Wäldern unterbrochen, machten auf mich einen fast erdrückenden Eindruck. Ich war froh, als ich Odessa erreichte. Gott sei Dank habe ich meinen Bruder und die Seinen viel gesünder aussehend gefunden als in Bern. Die Kinder freuen sich sehr über die hübschen Geschenke, die Sie so freundlich waren, ihnen zu schicken. Meine kleinen   Unleserliche Stelle [...] habe ich auf einem kleinen Tisch im Salon, wo ich einige meiner liebsten kleinen Angedenken aufgestellt habe, so dass ich sie immer vor Augen habe. Sehr weise ist es wohl nicht, die Sehnsucht nach Freunden zu nähren, die durch eine so große Entfernung von mir getrennt sind. - Ich hoffe, mich nach und nach an Odessa zu gewöhnen,  
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Odessa ist eine große, schöne Stadt. Die Straßen sind gerade, breit und mit Akazien bepflanzt, es sind die einzigen Bäume, die hier ordentlich fortkommen. Die Leute, die ich hier habe bis jetzt kennenlernen können, sind reiche Kaufleute, Banquiers. Es herrscht überall ein großer Unrat, aber ich fürchte um mein geistiges Leben. Sie habe die Erziehung ihrer zwei ältesten Nichten übernommen und hoffe auf weitere Schülerinnen. Abends denke sie beim Lesen mit den Kindern oft an Steinort, die Gräfin möchte ihr die Bücher benennen, die sie gemeinsam gelesen haben, sie wolle sie sich besorgen. - Wir leben hier in einer ziemlich großen Aufregung, der englische Prediger habe vorgestern mitgeteilt, dass für Odessa der Belagerungszustand erklärt werden würde. England scheint sich wieder abgekühlt zu haben und der Türkei wieder gewogen zu sein. Es werden fortwährend hier Feste gegeben „au prosite‟ etc. des   Unleserliche Stelle [...] ; der Enthusiasmus ist allgemein.

Möchten Sie bitte so gut sein, mich dem Herrn Grafen zu empfehlen und ihm von mir zu danken für alle Freundlichkeit, die er mir erwiesen. An   Unleserliche Stelle [...] habe ich geschrieben, aber die Briefe gehen hier so langsam, dass ich wohl lange ohne Antwort sein werde. Die Zeiten sind sehr ungünstig um eine Stellung, wie er sie wünscht, für ihn zu finden, meine Leute und ich werden jedoch tun, was wir können, ihm behilflich zu sein. - Wenn Sie etwas Zeit erübrigen könnten ein paar Zeilen an mich zu schreiben, so würden Sie mich gewiss recht glücklich machen, denn ich sehne mich danach zu hören, wie es Ihnen jetzt geht.

Ihre Ihnen von ganzem Herzen und in tiefster Liebe ergebene S. Kleinhans

Zitierhinweis

Seraphine Kleinhans an Anna Gräfin von Lehndorff. Odessa, 4. Oktober 1876. In: Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Bearbeitet von Gaby Huch. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. URL: lebenswelten-lehndorff.bbaw.de/lehndorff_hps_hgd_py