Rosengarten, Kreis Angerburg (Ostpreußen), 14. August 1906

Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster Kaiser und König!
Allergnädigster Kaiser, König und Herr!

In tiefster Ehrfurcht wagt der untertänigst unterzeichnete Vorstand nachstehende Bitte ganz gehorsamst vorzutragen: Das hierselbst bestehende Gräflich Lehndorffsche Mädchen-Waisenhaus befindet sich in einer sehr bedrängten und hilfebedürftigen Lage. Einst im Jahre 1872 von Frau Gräfin Lehndorff-Steinort ins Leben gerufen, hat es drei Jahrzehnte lang als private Anstalt in Segen gewirkt und für verweiste sowie für viele zur Zwangserziehung überwiesene Mädchen als Erziehungsstätte gedient. Um aber dem Werk der edlen hochherzigen Stifterin, welche selber durch einen vorzeitigen Tod daran gehindert wurde, eine gedeihliche Weiterentwicklung zu sichern, musste die ganze Organisation der Anstalt eine zeitgemäße Änderung erfahren. Darum wurden erste Schritte unternommen, die Anstalt zu einer selbständigen Stiftung zu erheben und dazu die Allerhöchste Genehmigung am 9. August 1904 huldvollst erteilt. Ist nun nach dieser Seite hin der Fortbestand unserer Anstalt durch Euer Kaiserlichen und Königlichen Majestät Gnade auch für die Zukunft gesichert, so stehen uns dennoch für die nächste Zeit schwere Sorgen und Lasten bevor. Der bauliche Zustand des Anstaltsgebäudes, das den heutigen polizeilichen und hygienischen Anforderungen nicht mehr genügt, erfordert dringend einen Neubau, welcher nunmehr im nächsten Jahre 1908 zur Ausführung kommen soll und muss. Der von dem Herrn Königlichen Kreisbaudirektor zu Angerburg durchgesehen Bauanschlag ist auf ca. 21.000 M normiert, wird jedoch wegen der inzwischen eingetretenen Verteuerung des Baumaterials und der Arbeitskräfte um ca. 3-4.000 M überschritten werden müssen. Demgegenüber stehen der Waisenhausstiftung selber nur ca. 7.000 M an Baumitteln zur Gebote, welche wir durch Zuwendungen seitens des Herrn Landeshauptmanns sowie durch Verkauf der alten Baulichkeiten vielleicht auf günstigstenfalls 10.000 M erhöhen zu können hoffen; damit ist dann aber unsere Leistungsfähigkeit erschöpft, und die weiteren Baumittel müssten durch eine Anleihe aufgenommen werden. Wenn dieses in ganzem Umfang der noch erforderlichen Bausumme geschehen müsste, so würde dadurch die Anstalt mit einer Schuld belastet, deren Verzinsung und Amortisierung bedeutende Mittel erfordern würde und diese somit ihrer eigentlichen Bestimmung zum Unterhalt der Anstalt entziehen. Der Neubau aber muss unternommen werden, soll nicht anderenfalls das Fortbestehen des Waisenhauses und seine segensreiche Wirksamkeit, die sowohl in der Erziehung der Zöglinge zu brauchbaren evangelischen Christen als auch in ihrer Heranbildung zu tüchtigen ländlichen Arbeiterinnen und Dienstboten besteht und so den beiden Hauptbedürfnissen unseres Ostens nach Kräften mit zu steuern bemüht ist, für weiterhin ganz in Frage gestellt werden.

Nachdem Euer Majestät Gnade das zweckmäßige und segensreiche Wirken unserer Anstalt durch Genehmigung als selbständige Stiftung schon anzuerkennen geruht haben, so nahen wir uns in unserer jetzigen Notlage wiederum mit vollem Vertrauen und der alleruntertänigsten Bitte Euer Kaiserliche und Königliche Majestät wolle unsere Anstalt ein größtes Gnadengeschenk gewähren und derselben damit einen neuen Beweise Allerhöchstihres gnädigen Wohlwollens erteilen.

In dieser Hoffnung verharrt Euer Kaiserlichen und Königlichen Majestät alleruntertänigster Diener Junkuhn
Pfarrer
Vorsitzender des Vorstandes

Zitierhinweis

Otto Junkuhn an Kaiser Wilhelm I. Rosengarten, 14. August 1906. In: Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Bearbeitet von Gaby Huch. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. URL: lebenswelten-lehndorff.bbaw.de/lehndorff_mmq_ygf_cy