Reichenbach bei Preuß. Mark, den 3. Januar 1807

Beste Mutter!

Unser Schicksal naht sich seiner Beendigung, leider nicht besser, als es angefangen hat. Seit den letzten 8 Tagen unserer Operationen waren wir vom kleinen Überrest der preußischen Truppen unter General L'Estocq noch getrennt und bildeten unter dem Befehl des Generals Rouquette mit noch einem Füsilierbataillon und einer halben reitenden Batterie und noch ungefähr 200 Pferden von anderen Regimentern ein sogenanntes fliegendes Corps, bestimmt, das Land für Streifparteien des Feindes und voraus vor den leider sich stark anhäufenden   Napoleon nutzte die Hoffnung polnischer Patrioten auf Wiederaufrichtung des Königreichs Polen für seine Kriegszwecke und regte die preußisch-polnischen Soldaten zum Verlassen der Truppe an. Diese bildeten unter General von Dombrowski ein besonderes polnischen Corps, vgl. Schultze, Lebensbild, S. 473. Auch das Regiment Rouquette litt unter dieser Desertion.
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Polnischen Insurgenten
zu schützen und das approvisionnement mehrerer Magazine und der Festung Graudenz durch die Marienwerdersche Kammer zu protegieren. Das haben wir bis jetzt treulich getan und uns mit kleinen feindlichen Abteilungen häufig herumgezankt, bis das, was ich längst kommen sah, erfolgt ist. General L'Estocq ist bei Soldau und Ortelsburg, nach zwar erst errungenen Vorteilen, durch die Übermacht des Feindes zum Weichen gebracht, unsere nur durch Patrouillen soutenierte Kommunikation mit ihm zerrissen, und da wir nun völlig von ihm abgeschnitten, so dass uns nur der mögliche, sehr ungewisse Weg noch übrig bleibt, uns auf Königsberg zu werfen, ehe der Feind es erreicht. Seit gestern sind wir auf dem Wege dahin im schnellsten Marsch. Wir futtern hier in diesem Dorfe nur ein paar Stunden, da die rasend finstere Nacht es fast unmöglich macht, fortschreiten zu können, und ich benutze die Gelegenheit einer Estafette, die General Rouquette an den König schickt, um ihn von diesen leidigen Ereignissen zu unterrichten, um auch Ihnen, beste Mutter, davon Nachricht zu geben. Nach eben eingehenden Nachrichten sollen die Franzosen heute in Guttstadt eingerückt und auf dem Weg nach Heilsberg sein. In diesem Falle würde es wohl schwerlich uns noch möglich werden, vor diesen leichtfüßigen Leuten die gute Vaterstadt zu erreichen, da unser Weg der längste ist. Auf diesen Fall hat mir Rouquette versprochen und versichert, dass wir uns durchschlagen wollen oder doch das Mögliche daran zu wagen. Also, liebe beste Mutter, wahrscheinlich sehen wir uns bald, wenn Gott nicht alle meine Hoffnungen vernichtet. Es wird zwar ein trauriges Wiedersehen sein - doch Wiedersehn, und der Gedanke ist mir wohltuend.

Verlassen Sie um Himmels willen nicht Königsberg bei der Annäherung des Feindes. Nirgends würden Sie sicherer sein. Ich glaube, dass ich Sie schon in einem früheren Brief darum gebeten habe. Pauline aber würde gut daran tun, mit ihren Kindern oben hinauf zu ziehen, damit sie ihre Einquartierung, wofür wohl keine Hilfe sein dürfte, unten platzieren könnte. Auch ist sie oben für den ersten Anlauf gesichert. Ich bin besorgt und neugierig, welche Partie der König ergreifen wird, und welche er ergreifen kann. Ich glaube nicht, dass das Corps, welches auf Königsberg geht, beträchtlich ist, aber ich weiß auch nicht, ob die bei Königsberg versammelten alten und neu organisierten Truppen schon stark und geübt genug sind, um einigen Widerstand leisten zu können. Wäre es möglich ihn abzuhalten, so wäre es freilich gut, aber weit trauriger auch würde das Schicksal von Königsberg sein, wenn dort noch eine Affaire nachteilig für uns ausfiele. - Von dem so sehr ausgerufenen Siege der Russen sind Sie doch wohl nicht  die Genarrte
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die dupe
gewesen. Ein Beweis, wie glänzend er war, ist ihre, bald möchte ich sagen, Flucht. Denn beinahe verdient ihre Art zu retirieren diesen Namen. Sie sind durch ihr  verzagtes
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pusillanimes
Verlassen der Weichsel an allem Unglück schuld, welches uns seitdem getroffen. - General L'Estocq hat gestern, Freitag, sein Hauptquartier in Rastenburg genommen. Wie uns in diesem Augenblick ein von ihm abgesandter Bote, der sich durchgeschlichen, benachrichtigt. Von dort war seine Absicht, nach Angerburg, und so nach Insterburg, und so endlich vielleicht nach Petersburg zu gehen. Doch lässt er sich aus jedem Quartier erst durch den Feind mit gewaffneter Hand vertreiben. So ehrenvoll diese Retraite für ihn ist, so verheerend ist sie für die Gegend, die er durchzieht, also wird heute wohl unser armes Steinort der Schauplatz der Verheerung sein!

Wenn Sie etwa noch vor der Ankunft des Feindes unseres Regimentsquartiermeisters habhaft werden können, so lassen Sie sich doch von ihm alles Geld geben, was er noch von mir hat. Es sind 100 Louisdor, 100 Dukaten und auch noch einige Hundert Taler Silbergeld, und verwahren Sie es gut, liebe Mutter. Wer weiß, wie es mit unserem Stabswagen wird. Bin ich so glücklich, Sie zu sprechen, so werde ich Ihnen mündlich sagen, welch eine Bewandtnis es mit diesem Gelde hat. Versagt mir Gott dieses Glück. So hat  Kapitän Leopold von Keudell im Regiment Rouquette
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Keudell
Rechte an diesem Geld, und er wird Ihnen alles sagen, wie überhaupt er von meinen Affairen und Wünschen unterrichtet ist, wenn ich sie Ihnen nicht noch selber übertragen kann. Gott segne Sie, teuerste Mutter, bald vielleicht habe ich den Trost, Ihre teuren Hände und die meines guten Vaters zu küssen, und meine innig geliebte Schwester an mein Herz zu drücken. Gott wolle bald das Elend enden, dass das Vaterland bedrückt und mein Herz beklemmt.

In Leid und Freud Ihr Sie treu liebender Sohn C. Lehndorff

Durch die Generalin Rouqette, liebe Mutter, werden Sie erfahren können, wo der Regimentsquartiermeister Broscovius ist und ob Sie ihn habhaft werden können. Wo nicht, so ist auch so sehr viel nicht daran gelegen, denn er ist ein Hasenherz, dieser Mann, und wird sich schon bei Zeiten aus dem Staube machen. Kommen Sie aber mit ihm zusammen, so lassen Sie sich auch von ihm ein gewisses kleines versiegeltes Kästchen - es ist eine Schublade aus einer Schatulle - geben, worin ich allerhand kleine Pretiosen habe, als z. B. das gewisse bernsteinene Kreuz, eine Uhr ... Steinort kommt mir nicht aus den Gedanken. Auch diese Freude, an der mein Herz in der letzten Zeit sich so sehr gekettet hatte, ist mir gewiss vernichtet!

Zitierhinweis

Carl Friedrich Ludwig Graf von Lehndorff an seine Mutter Amalie. Reichenbach, 3. Januar 1807. In: Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Bearbeitet von Gaby Huch. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. URL: lebenswelten-lehndorff.bbaw.de/lehndorff_s14_bts_lcb