Orlowen, d. 19. Oktober 1881
Ich möchte einem Mann, dessen Charakter Gold ist, nicht gern in zweifelhaftem Lichte erscheinen. Da nun aber Euer Hochgeboren jüngst bei Gelegenheit der kirchlichen Wahlen es mich haben wissen lassen, dass ich Ihnen nicht unbekannt bin (Sie nannten meinen Namen), halte ich es in gewisser Weise geboten, meine Rechtfertigung darüber vor Hochdenselben zu versuchen, dass ich als Geistlicher nichts dafür tue, dass der Zweck erreicht wird, der Sie, hochgeehrter Herr Graf, gestern nach Widminnen geführt hat. Ich besorge im übrigen nicht, dass Euer Hochgeboren es mir als Anmaßung, Zudringlichkeit pp anrechnen könnten, dass ich an Sie schreibe.
Ich halte die Kreisordnung, die Gesetze über Freizügigkeit pp und anderes für übel. Stünde es in meiner Macht, ich führte die alte Ordnung wieder ein, und das noch ehe Eintritt des Vollmondes. (Es hat hier jüngst ein Amtsvorsteher länger als sechs Monate hindurch fungiert, wenngleich auch nur als Stellvertreter, der schreiben würde: „Ich bedanke mir Ergebenst vor ihr.‟) Da nun aber diese Einrichtungen, bei denen kein Mensch etwas gewinnt, das Ganze aber gar viel verloren hat, den „Liberalen‟ in Rechnung zu stellen sind, warum trete ich ihnen wohl mit Schild und Speer gegenüber?
Gelänge es Fürst Bismarck ins Werk zu setzen, was er als seine Absicht hinstellt, wie die Armenpflege, die Schulen, aus der drückenden Abhängigkeit von der Dorfkommune zu befreien, so verdiente er, dass sein Name mit goldenen Lettern in jedes Gebetbuch und jedes Gesangbuch und jede Bibel eingetragen würde. Warum geselle ich mich nun nicht denen in aller Entschiedenheit bei, die für diese seine Zwecke wirken?
Einem Mann gegenüber, den alles als edelgesinnt kennt und ehrt, will ich ohne Zurückhaltung spreche. Alle jene unerfreulichen Einrichtungen wie die Kreisordnung, die keinerlei Segen im Gefolge haben, hat Fürst Bismarck ins Leben treten lassen. Alle die Schäden hat er mit verschuldet, für die man jetzt die „Liberalen‟ verantwortlich macht. Wer kann dem widersprechen, wenn ich behaupte, dass die Liberalen ohne seine Zustimmung schlechterdings nichts hätten erreichen können. Der Mann von Eisen schiebt, wenn er auf Widerspruch stößt, Männer zur Seite, die aller Welt verehrungswürdig erscheinen und mit denen er bis dahin verkehrt hat wie mit Freunden wie Graf Eulenburg, Delbrück. Ein solcher Mann, den keine Rücksicht bindet, keine Gefahr schreckt, musste unter allen und jeden Umständen geschehen lassen wollen, was zum Nachteil fürs Ganze zu Stande gebracht worden ist. Nun soll Reaktion eintreten und diese Reaktion soll jeder fördern helfen! Ich kann dies nicht, so lange es Männern nicht möglich ist, die ich für Freunde des Vaterlandes und dem Fürsten für ebenbürtig halte. Ich nenne hier Bennigs, Eulenburg und könnte noch andere nennen.
Ich will noch offener sein. Ich fürchte mich vor dem eisernen Grafen. Ich frage, wie es zugeht, dass sich so viele, so gar viele, die er sich zu seinen Gehilfen erwählt, nach Verlauf von kurzer Zeit sich wieder von ihm trennen? Ich nenne hier den Grafen Stolberg.
„Aber seine Ziele sind doch edle. Dem Arbeiter soll die Sorge um sein Alter nicht mehr Sorge machen. Der Grundbesitzer soll freier aufatmen dürfen. Die Schule soll Staatsanstalt werden.‟
Wer kann es mir verargen, dass ich jene Ziele für unerreichbar halte, so lange Männer, die ich zu den edelsten und besten des Landes zähle, die Erreichbarkeit bezweifeln, die Männer, die Fürst Bismarck sich zu seinem Mitarbeitern erwählt hatte.
„Aber wie kannst und darfst Du es Dir herausnehmen, ein Pfarrer an einer Landeskirche, nach Bismarcks Zwecken zu fragen? Es ist die Obrigkeit, die es wünscht und will, das Konsistorium, die Regierung, das Staatsministerium, dass da das seine dazu beiträgt, dass Männer in den Reichstag gewählt werden, die sich von der Neigung zu opponieren frei wissen.‟
Soviel ich mich dessen entsinne, habe ich mich seit den ersten Jahren nach meiner Anstellung hier in Orlowen, also vielleicht seit schon 25 Jahren, bei den Wahlen direkt nicht mehr beteiligt, das will sagen, ich habe mich während dieses Zeitraums nie zum Wahlmann wählen lassen und habe auch nie einen Zettel in die Wahlurne gelegt. Mindestens kann ich nur zugeben, dass letzteres nur einmal geschehen ist. Ich schrieb auf meinen Zettel den Namen „Falk‟. Auf meine Mannesehre aber kann ich versichern, dass ich nie und in keiner Weise für die Wahlen - sit vena verbo - agitiert, wie ich es auch jetzt nicht tue. In dieser Weise will ich denn auch fürder verfahren. So Unleserliche Stelle [...] ich schon meines persönlichen Friedens halber. Auch hier in meiner Umgebung gibt es Fortschritter und Konservative. Ich will nicht die einen und nicht die anderen gegen mich haben. Diese Art von „Sorge um das persönliche Wohl‟ darf man einem so geringen Mann, wie ich es bin, nicht verargen. Jedenfalls aber darf sie für weniger strafwürdig gehalten werden, als die gleiche Sorge bei anderen, die sich gefügig zeigen, wenn ein Mann von Ansehen und Einfluss ihre Mitwirkung beansprucht, die es dann aber hinterher bedauern, dass sie genötigt worden sind, aus dem Schatten ins Licht zu treten.
Soll ich dieses Schreiben abgehen lassen, soll ich es zerreißen und den vier Himmelsgegenden preis geben? Wird sein Verfasser nicht vielleicht für anmaßend und zudringlich gehalten werden vom Empfänger desselben?
Ich sende es eben ab. Ich möchte es verhüten, dass ich von einem Manne, dessen Charakter Gold ist, ungünstiger beurteilt werde, als ich verdiene.
Ob Kiel zu diesem Zeitpunkt noch amtierte, ist offen. 1888 übernahm Friedrich Wilhelm Flöß das Amt, vgl. Moeller, Friedwald, Altpreußisches evangelisches Pfarrerbuch von der Reformation bis zur Vertreibung im Jahre 1945, Hamburg 1968, S. 105.[Schließen]Der Pfarrer Kiehl
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