Gutsarchive und Familienforschung.
Gutsakten reichen oft weiter als Kirchenbücher.
Das Gerippe einer Familienkunde, wie es aus den Kirchenbüchern gewonnen werden kann, ist auf die Dauer zu dürftig, um befriedigen zu können. Es bedarf der Ausfüllung durch Nachrichten über die wirtschaftliche Lage, die Wehrbetätigung, Bildung und als letzte Erfüllung Nachrichten über die Charaktere der Vorfahren. In dieser Beziehung sind auch für die Familienforschung aller Volksschichten die Gutsarchive von hervorragendem Wert. Sie sind bisher aus einer gewissen Scheu wenig oder nur einseitig ausgewertet worden. Es erweist sich immer mehr, dass die Gründe für diese Nichtbeachtung nicht stichhaltig sind.
Doch bedarf es noch einiger Vorarbeiten, um die Erschließung der Gutsarchive für die Familienforschung völlig zu sichern. Die Archive sind vielfach durch Abwanderung, Verkauf oder Siedlung verschleppt und daher nur schwer auffindbar. Solche Verschleppungen erstrecken sich manchmal über Hunderte von Kilometern in ganz andere Landesteile. Es ist also eine allgemeine Verzeichnung der Archive und ihrer Teile notwendig. Dann wird es den Staatsarchiven gelingen, einen Austausch oder wenigstens eine Bekanntgabe des Aufbewahrungsortes des verschleppten Archivguts an den Heimatort desselben zu erreichen. Diese Sichtung und Ordnung zunächst innerhalb der Provinzen und später im ganzen Reich würde sich einerseits für die Heimatforschung als außerordentlich wertvoll erweisen; denn bisher fehlen vielen Neusiedlungen geschichtliche Quellen fast vollständig, andererseits würde der Familienforschung eine Menge neuen Materials erschlossen.
Aber trotz der erwähnten Lücken gibt es noch heute eine große Zahl sehr reichhaltiger Gutsarchive besonders in solchen Gegenden, die viele bodenständige Geschlechter aufzuweisen haben. Die Besitzer erlauben eine Einsichtnahme fast immer gern. Meist erfüllt es sie berechtigterweise mit einer gewissen Genugtuung, dass ihre durch viele Generationen gehüteten Schätze auch für andere Volksgenossen von Wert sind. Sehr gute Dienste können bei den Vorbereitungen auch die Archivpfleger für nichtstaatliches Archivgut leisten, die überall für jeden Kreis eingesetzt sind. In absehbarer Zeit werden sie alle Gutsarchive so gut kennen, dass sie den Familienforschern alle nötigen Fingerzeige geben können.
Testamente, Heiratsverträge …
Natürlich ist in den Gutsarchiven in erster Linie Schriftgut über die ehemaligen Besitzer zu
finden. Es sind vor allem Lehnsbriefe, Kaufverträge, Heiratsverträge,
Testamente, Auseinandersetzungen. Grenzstreitigkeiten, Vermessungen und
Inventare. Dazwischen finden sich manchmal ganze Bündel von Privatbriefen,
Familienschriftstücke, Alben und auch Reisebeschreibungen. Meist ist dieses
Schriftgut schon vor Jahrzehnten einmal gesichtet und bearbeitet, aber
keineswegs immer so gut und so gründlich wie etwa für das
Lisch, Friedrich, Urkunden und Forschungen zur Geschichte des
Geschlechts Behr, Bd. 1 bis 5, Schwerin 1861 bis 1863; Bd. 5 und 6,
hrsg. von Ulrich Graf von Behr-Negendank, Berlin 1894 und
1897.
[Schließen]Geschlecht von Behr in Vorpommern. Das Schriftgut dieses Geschlechts liegt in
sechs
[Schließen]neun starken Bänden vor und ist eine Fundgrube für eine
ganze Landschaft. In ähnlich vorbildlicher Weise könnte noch manches andere
Archiv ausgewertet werden.
Auch Kirchenbücher fanden sich schon unter alten Gutsakten
Neben den alteingesessenen Familien treten seit dem 16. Jahrhundert auch andere Familien als Gutsbesitzer auf. So besonders in der Nähe der größeren Städte, wo häufig wohlhabende Kaufmannsfamilien Güter erwerben. Noch stärker wird dieser Zustrom gegen 1800. In dieser Zeit verschnellerte sich der Besitzwechsel so sehr, dass in manchen Gutsarchiven das Material für eine ganze Anzahl von Familien zu finden ist. Meist handelt es sich dann um den Aufstieg vom Verwalter zum Pächter zum Besitzer.
Häufig findet sich nun der Glaube, dass mit dieser Leistung der Gutsarchive, Familienarchiv für die Besitzer zu sein, die Erträge erschöpft wären. Gerade das ist ein Irrtum. Viele Güter oder Vorwerke sind bis zum Dreißigjährigen Kriege oder sogar bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts noch Bauerndörfer gewesen. Dann sind fast immer Nachrichten über die letzten Bauern erhalten, oder es finden sich Pachtverträge über die Höfe, Mühlen und Schmieden. Auch Bauerlaubnisse für Handwerkersiedlungen kommen vor. So reichen die Gutsakten nicht selten weiter in die Vergangenheit als die Kirchenbücher. Vereinzelt sind sogar Kirchenbücher unter den Gutsakten versteckt, weil sie in gefahrvollen Zeiten dem Gutsherrn als dem Kirchenpatron übergeben wurden.
Noch eine letzte Gruppe der Gutsakten muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Es sind die Personalakten der Beamten und Untertanen. Angefangen bei den Heiratserlaubnissen für ein Mädchen oder für einen jungen Burschen bis zu den manchmal recht drastischen Äußerungen eines Gutsherrn über seine Beamten, denen er die Verwaltung anvertrauen musste, während er selbst irgendwo im Staatsdienst stand. Solche Charakterskizzen sind familienkundlich ganz besonders reizvolle Stücke. Wenn aber der Pfarrer oder Lehrer in einer Eingabe an den Gutsherrn über seine unerträgliche Lage klagt, oder wenn bei den häufigen Prozessen die Zeugen sich in aller Breite aussprechen, dann hat man die seltenen und so sehr gesuchten ganz persönlichen Dokumente vor sich.
Aus allem geht hervor, dass die Gutsarchive eine starke Beachtung verdienen, weil in ihren Beständen nicht nur Archivgut der Besitzerfamilien zu sehen ist, sondern das Schriftgut eines Patriarchats, dass im allgemeinen sauberer geführt und besser erhalten ist, als z. B. das Schriftgut eines reinen Bauerndorfes oder das mancher Kleinstadt.
M. H.
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