5. September. Ich erfahre eine Neuigkeit aus Preußen, die mich sehr überrascht. General Lehwald hat die Russen angegriffen, die doppelt so stark und gut verschanzt waren. Das Unternehmen ist denn auch misslungen. Wir wurden gezwungen, uns zurückzuziehen und unsere Kanonen im Stich zu lassen. Man sagt zwar, die Feinde hätten mehr Leute verloren als wir, aber dafür haben sie auch 10.000 Mann und wir nur 28.000. Ich bin in großer Unruhe wegen meines Schwagers, des Grafen Ysenburg. Ich schicke zum Grafen Podewils, um näheres zu erfahren. Er lässt mir sagen, General Lehwald habe ihm noch gar nichts über die Sache mitgeteilt. Man fängt sogar an, die Richtigkeit der Nachricht anzuzweifeln, aber der Postmeister hat von dem Eilboten, der dem König die Nachricht überbracht hat, einen so genauen Bericht erhalten, dass man unmöglich daran zweifeln kann. Man hat sogar schon eine Liste der Gefallenen, und ich danke dem Himmel, dass ich die Namen meiner Verwandten nicht darauf finde.

  Editorische Auslassung [...]

6. September. Niemals habe ich die Post aus Preußen mit solcher Ungeduld erwartet wie die heutige. Endlich ist sie da. Die Nachrichten lauten noch weit ungünstiger als die gestrigen. Goltz, der Adjutant des Königs, den man beschuldigt, zur Schlacht geraten zu haben, wie auch 80 Offiziere sind tot, General Dohna schwer verwundet. Der Feind hat uns 12 Kanonen abgenommen. Wahrhaftig, niemand als ein solcher Faselhans wie Lehwald kann ein verschanztes Lager, das 100.000 Mann umschließt und von 150 Kanonen geschützt ist, mit 30.000 Mann angreifen. Mein Schwager Ysenburg schreibt mir, dass er von seiner Kompagnie nur 20 Mann zurückgebracht hat. Dieses Regiment hat die meisten Verluste gehabt. Die Lage Preußens ist entsetzlich. Die Kosaken haben über 50 Dörfer verbrannt. Zu unserem Unglück haben sie während des Kampfes alle Dörfer im Umkreise angezündet, so dass ein entsetzlicher Rauch sich über unsere Armee verbreitete, der die Aussicht völlig verhinderte und die Schuld daran trägt, dass unsere Infanterie unsere Kavallerie beschossen hat.

7. bis 10. September. Wie machen eine trostlose Zeit durch. Unsere von allen Seiten und in so verschiedenen Ländern und Klimaten der Gefahr ausgesetzte Armee scheint nicht mehr jene unüberwindliche Phalanx zu sein, die sie so lange gewesen ist.   Editorische Auslassung [...] Die schlimmsten Nachrichten kommen aus Preußen. Dort ist alles in äußerster Verwirrung; es fehlt vollständig an Artillerie. Und dabei hatte Herr v. Lehwald anderthalb Jahre Zeit, sich auf diesen Krieg vorzubereiten, aber er hat an diesen wichtigen Punkt nicht gedacht. In Küstrin stehen Kanonen im Überfluss, und in ganz Preußen haben wir keine 40 Stück. Der Feind dagegen hat derer 150. Unsere Streitkräfte betragen im ganzen 26.000 Mann und die des Feindes 100.000. Wir haben zwei Regimenter Husaren, der Feind 30.000 Barbaren, die aus diesem schönen Land eine Wüste machen. Die zwei bedeutendsten und vielleicht einzigen Köpfe der Armee in Preußen sind nicht mehr da: Goltz ist tot und General Dohna tödlich verwundet. Dieses arme Land wird ein augenfälliges Opfer des Streits der Großen werden. Welch weites Feld zu philosophischen Betrachtungen, wenn man bedenkt, wie ein in Amerika wegen jenes  Vgl. Willson, Beckles, Nova Scotia. The Province that has been passed by, London 1911.
 [Schließen]
Neuschottland
, von dem seit dem   1474
 [Schließen]
Frieden von Utrecht
nie mehr die Rede war, begonnener Krieg durch eine eigentümliche Verkettung von Umständen die Verwüstung eines Königreichs im hohen Norden verursacht! - Der Prinz von Preußen ist gegenwärtig in Torgau, krank und in Verzweiflung über all das Ungemach. Dresden ist von leichten österreichischen Truppen umringt und ganz Sachsen von diesem Gesindel überschwemmt. Schmettau ist beim König in Ungnade gefallen und muss in Dresden bleiben. Ich als Nichtmilitär kann über all das nicht urteilen und führe nur die verschiedenen Ansichten an, die man über die Sache hört.   Editorische Auslassung [...] Die Königin von Polen habe den Feind von allem unterrichtet. Ein Graf Schönberg hat die Korrespondenz geführt, der jetzt der Hochverräterei angeklagt ist.. So lernt man vorsichtig zu sein, vor allem beim Briefe schreiben.   Editorische Auslassung [...]

 Der Rest des Eintrages von diesem Tag und der Eintrag zum Folgetag in den Nachträgen, S. 138 f.
 [Schließen]
11. September.
Der Prinz von Preußen hat Torgau verlassen und sich nach Wittenberg geflüchtet.

13. September. Posttag für die Post aus Preußen, demnach wieder ein Tag der Trauer. Die Russen begehen schreckliche Grausamkeiten. Sie haben Gerdauen, dass meinem Schwager Schlieben gehört, geplündert trotz des Schutzbriefes, den dieser durch die   Hedwig Luise Prinzessin von Hessen-Homburg hatte 1718 den Grafen Adam Friedrich von Schlieben aus der Linie Sanditten geheiratet. Die Ehe mit dem hessischen General galt als Mesalliance und Skandal. Liselotte von der Pfalz schrieb am 13. März 1718: „Lässt man jetzt in Deutschland die Prinzessinnen herumlaufen wie in Frankreich, das war der Brauch nicht zu meiner Zeit - man hat wohl groß Recht zu Cassel übel zufrieden über diese Heirat zu sein - die Zeit ist herbei gekommen, wie in der heiligen Schrift steht, dass sieben Weiber nach eines Mannes Hosen laufen werden.“
 [Schließen]
Vermittlung seiner Tante, der Prinzessin von Homburg,
von der Kaiserin erhalten hatte. Sie haben das geraubte Vieh in den Paradezimmern geschlachtet, die Tische und Kommoden meiner Schwester zerschlagen, sich damit ein Feuer angezündet und ihr Essen zubereitet. Die Statuen haben sie zertrümmert, um die Eisenstangen, die sie trugen, fortzuschleppen. Die Pferde und alles Vieh haben sie zwei Tage lang im Garten gelassen, kurz, alles vollständig verwüstet. Als man ihnen den Schutzbrief und ein großes, 'Elisabeth Petrowna' unterzeichnetes Plakat vorzeigte, haben sie es genommen, geküsst, an die Brust gedrückt und dann zerrissen. - Die Königin geht nach Schönhausen.

  Editorische Auslassung [...]

17. September.   Editorische Auslassung [...] Aus Preußen erhalte ich trostlose Nachrichten. Bei meiner Schwester, der Gräfin Schlieben, hat man unerhörte Exzesse verübt. Man hat die Tische, Kommoden und Schränke zerschlagen, um das Holz als Brennmaterial zu verwenden; aus ihren besten Zimmern hat man eine Schlächterei gemacht; man hat Weiber mit weggeschleppt, kurz, es herrschen trostlose Zustände. Ich zittere vor Angst, dieselben Trauernachrichten von den Gütern meiner Mutter zu erhalten. Diese arme Frau, die bisher ein so glückliches und ruhiges Leben führte, befindet sich jetzt in äußerster Aufregung.   Editorische Auslassung [...]

18. September. Ich erhalte die erfreulichsten Nachrichten von der Welt. Ein Kurier des Feldmarschalls Lehwald meldet, dass die Russen sich eilig zurückziehen; ein Brief weiß sogar zu berichten, dass sie ihre Kanonen zurückgelassen haben. - Ich eile zur Prinzessin von Darmstadt, von der ich weiß, wie sehr sie an unserem Glück Anteil nimmt. Man spricht von nichts anderem mehr, als vom Abzug der Russen. Als ich abends an den Hof komme, erlebe ich eine rührende Freude. Alles eilt auf mich zu, das ganze königliche Haus, alle Privatpersonen, alle Minister kommen und wünschen mir zur Befreiung meiner lieben Heimat von Herzen Glück.

  Editorische Auslassung [...]

20. September. Endlich langen die freudigen Briefe aus Preußen an. Die Nachrichten von ihrem plötzlichen Rückzug bestätigen sich. Sie nehmen die Gefangenen, die sie gemacht haben, mit. Ihre Artillerie hat bereits die Memel bei Tilsit überschritten, der Prinz von Holstein verfolgt sie mit der Reiterei. Man weiß noch nichts Bestimmtes über diesen unerwarteten Rückzug.   Editorische Auslassung [...] Die Hauptsache jedoch ist, dass diese furchtbare Armee abzieht. Der Schaden, den das Land während des kurzen Krieges erlitten hat, übersteigt mehrere Millionen. So schreibt man mir z. B., dass im Schloss meiner Schwester in Gerdauen, wo alles ausgeplündert worden ist, unter anderem in einem Gemach, das meine Schwester, die die Sauberkeit selbst ist, mit vieler Sorgfalt ausgeschmückt hatte, in Porzellangefäßen und hinter Gemälden Dinge zurückgeblieben sind, die nicht nach Moschus duften.   Editorische Auslassung [...] Aber da alle Ereignisse im Leben mit Bitterkeit gemischt sind, so bin ich nun in Sorge um meine ältere Schwester, die in Stettin von den Schweden eingeschlossen ist und von der ich nicht die geringste Nachricht habe.

  Editorische Auslassung [...]

2. bis 9. November. Unsere Feinde ziehen sich immer weiter aus Preußen zurück, aber überall, wo sie durchkommen, hinterlassen sie ewige Schandmale ihrer barbarischen Grausamkeiten. Sie verbrennen und verwüsten alles. Das arme Ragnit hatte ein schreckliches Schicksal. Man hat es nicht bloß in Asche gelegt, sondern auch die Einwohner mit verbrannt. Schwangere Weiber hatten sich auf die Stadtmauern gestellt und wiesen auf ihren Leib, um das Mitleid der Feinde zu erregen; aber diese Barbaren stießen sie in die Flammen zurück!

Zitierhinweis

Tagebucheinträge von Ernst Ahasverus Heinrich Graf von Lehndorff. Berlin, 5. September bis 9. November 1757. In: Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Bearbeitet von Gaby Huch. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. URL: lebenswelten-lehndorff.bbaw.de/lehndorff_lgp_ykl_ndb