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Meiners 1784-90 | ![]() |
Christoph Meiners:
Briefe über die Schweiz, 4 Bde.
(Berlin: Spener 1784, 1785, 1790, 1790)
Exemplar: digital //
⇒ Adickes 1911, S.: 274
S. 26f.: Wir sahen Ströme von weißem schäumenden Wasser queer durch ganze Bett des Flusses herabfallen, und hörten ein heftiges Getöse; allein weder Augen noch Ohren wurden so gerührt, daß wir nicht einen heimlichen Unwillen gegen diejenigen empfunden hätten, die so viel Geschrey über das, was wir jetzo vor uns sahen, machen könnten. Als wir aber an dem steilen Ufer des Rheins auf den kleinen hölzernen Treppen zu der Brücke oder hölzernen Gallerie hinabstiegen, die an den Rand, und man kann sagen, in den Katarrakt selbst hineingebaut ist, da, bester Freund, hörten und sahen wir Dinge, die unsere Ohren nie gehört, unsere Augen nie gesehen hatten, die keine menschliche Zunge auszusprechen, keine Kunst zu erreichen vermag, die endlich solche Empfindungen hervorbringen, von denen man in Lesern, oder Hörern ncht einmal Annäherungen oder Anfänge erwecken kann. Ungeahctet wir alle Augenblicke, besonders, wenn ein Windstoß die Dünste auf uns zutrieb, mit ganzen Wolken von feinem Staubregen bedeckt wurden; [../.]. Als ich mich nachgerade von dem ersten betäubendem Erstaunen erhohlte, und das, was ich sah und hörte, und die in mir vorgehenden Bewegungen unterscheiden konnte, versuchte ich es, von dem erhabenen Schauspiele, was mich so tief gerührt hatte, gleichsam eine schwache Zeichnung in Worten zu entwerfen, weil ich fühlte, daß, wenn ich es nicht gleich auf der Stelle thäte, ich eine Stunde nachher nicht den hundertsten Theil von dem, was ich jetzo mit meinen Sinnen wahrnahm, mit meiner Phantasie wieder erreichen würde. Allein ich unterlag bald diesen ersten Versuchen und fand, daß die Kunst ihre eigenen Werke und auch die schönen Werke der Natur nachahmen könne, daß es aber unmöglich sey, erhabene Gegenstände und Scenen in Worte oder andern Zeichen treu darzustellen, und das einigermaßen auszudrucken, was den Rheinfall zu einer der größten Erscheinungen in der Natur macht.
S. 21: Der Fall des Rheins schien mir höher, und breiter, die Kraft und Geschwindigkeit der herabstürzenden Wellen viel größer, und die ganze Wassermasse ungleich reicher, als im Jahre 1782, ungeachtet der Rhein jetzo im Jul. beträchtlich niedriger, als vor sechs Jahren im Junius war. Die Neuheit dieses Schauspiels, das ich vormals mit so großer Aufmerksamkeit betrachtet hatte, würde mich befremdet haben, wenn ich sie nicht gewissermaßen erwartet hätte, indem ich bald nach der ersten Betrachtung des Rheinfalls fand, daß man die Eindrücke, die diese hinreißende Natur-Erscheinung hervorbringt, fast gar nicht mit der Einbildungskraft festhalten, und eben deßwegen auch nicht eine Zeitlang nachher auf eine der Empfindung sich nähernde Art erneuern kann.
Datum: 26.07.2018