Immanuel Kant, Programmschrift zur Vorlesung über physische Geographie, erschienen im April 1757 in Königsberg. Mit ergänzenden Anmerkungen zum Text. Text in einer zeilengetreuen Fassung von Bd. 2, S. 1-12, der Akademie-Ausgabe (Berlin 1905) | ![]() |
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|P_001_
|L_01 M. Immanuel Kants
|L_02 Entwurf und Ankündigung
|L_03 eines
|L_04 Collegii der physischen Geographie
|L_05 nebst dem Anhange einer kurzen Betrachtung
|L_06 über die Frage:
|L_07 Ob die Westwinde in unsern Gegenden darum feucht seien,
|L_08 weil sie über ein großes Meer streichen.
|P_003_
|L_01 Der vernünftige Geschmack unserer aufgeklärten Zeiten ist vermuthlich
|L_02 so allgemein geworden, daß man voraus setzen kann, es werden nur
|L_03 wenige gefunden werden, denen es gleichgültig wäre diejenigen Merkwürdigkeiten
|L_04 der Natur zu kennen, die die Erdkugel auch in andern Gegenden
|L_05 in sich faßt, welche sich außer ihrem Gesichtskreise befinden. Es
|L_06 ist auch für keinen gringern Vorzug anzusehen, daß die leichtgläubige Bewunderung,
|L_07 die Pflegerin unendlicher Hirngespinste, der behutsamen
|L_08 Prüfung Platz gemacht hat, wodurch wir in den Stand gesetzt werden,
|L_09 aus beglaubigten Zeugnissen sichere Kenntnisse einzuziehen, ohne in Gefahr
|L_10 zu sein, statt der Erlangung einer richtigen Wissenschaft der natürlichen
|L_11 Merkwürdigkeiten uns in einer Welt von Fabeln zu verirren.
|L_12 Die Betrachtung der Erde ist vornehmlich dreifach. Die mathematische
|L_13 sieht die Erde als einen beinahe kugelförmigen und von Geschöpfen
|L_14 leeren Weltkörper an, dessen Größe, Figur und Cirkel, die auf ihm müssen
|L_15 gedacht werden, sie erwägt. Die politische lehrt die Völkerschaften, die
|L_16 Gemeinschaft, die die Menschen unter einander durch die Regierungsform,
|L_17 Handlung und gegenseitiges Interesse haben, die Religion, Gebräuche
|L_18 etc. kennen; die physische Geographie erwägt bloß die Naturbeschaffenheit
|L_19 der Erdkugel und, was auf ihr befindlich ist: die Meere, das feste
|L_20 Land, die Gebirge, Flüsse, den Luftkreis, den Menschen, die Thiere,
|L_21 Pflanzen und Mineralien. Alles dieses aber nicht mit derjenigen Vollständigkeit
|L_22 und philosophischen Genauheit in den Theilen, welche ein Geschäfte
|L_23 der Physik und Naturgeschichte ist, sondern mit der vernünftigen
|L_24 Neubegierde eines Reisenden, der allenthalben das Merkwürdige, das
|L_25 Sonderbare und Schöne aufsucht, seine gesammelte Beobachtungen vergleicht
|L_26 und seinen Plan überdenkt.
|P_004_
|L_01 Ich glaube bemerkt zu haben, daß die erste zwei Gattungen der Erdbetrachtung
|L_02 Hülfsmittel genug für sich finden, wodurch ein Lehrbegieriger
|L_03 auf eine so bequeme als hinreichende Art fortzukommen im Stande ist;
|L_04 allein eine vollständige und richtige Einsicht in der dritten führt mehr
|L_05 Bemühung und Hindernisse mit sich. Die Nachrichten, die hiezu dienen,
|L_06 sind in vielen und großen Werken zerstreuet, und es fehlt noch an einem
|L_07 Lehrbuche, vermittelst dessen diese Wissenschaft zum akademischen Gebrauche
|L_08 geschickt gemacht werden könnte. Daher faßte ich gleich zu Anfange
|L_09 meiner akademischen Lehrstunden den Entschluß, diese Wissenschaft
|L_10 in besondern Vorlesungen nach Anleitung eines summarischen Entwurfes
|L_11 vorzutragen. Dieses habe ich in einem halbjährigen Collegio zur Genugthuung
|L_12 meiner Herren Zuhörer geleistet. Seitdem habe ich meinen Plan
|L_13 ansehnlich erweitert. Ich habe aus allen Quellen geschöpft, allen Vorrath
|L_14 aufgesucht und außer demjenigen, was die Werke des Varenius, Buffon
|L_15 und Lulofs von den allgemeinen Gründen der physischen Geographie enthalten,
|L_16 die gründlichsten Beschreibungen besonderer Länder von geschickten
|L_17 Reisenden, die allgemeine Historie aller Reisen, die Göttingische Sammlung
|L_18 neuer Reisen, das Hamburgische und Leipziger Magazin, die
|L_19 Schriften der Akademie der Wissenschaften zu Paris und Stockholm
|L_20 u. a. m. durchgegangen und aus allem, was zu diesem Zweck gehörte, ein
|L_21 System gemacht. Ich liefere hier hievon einen kurzen Entwurf. Man
|L_22 wird urtheilen können, ob es, ohne dem Namen eines Gelehrten Abbruch
|L_23 zu thun, erlaubt sei, in diesen Dingen unwissend zu sein.
|L_24 Kurzer Abriß der physischen Geographie.
|L_25 Vorbereitung.
|L_26 Die Erde wird kürzlich nach ihrer Figur, Größe, Bewegung und den
|L_27 Cirkeln, die wegen dieser auf ihr müssen gedacht werden, betrachtet, doch
|L_28 ohne sich in diejenige Weitläuftigkeit einzulassen, die für die mathematische
|L_29 Geographie gehört. Alles dieses wird auf dem Globo und zugleich die
|L_30 Eintheilung in Meere, festes Land und Inseln, die Proportion ihrer Größe,
|L_31 die Klimata, die Begriffe der Länge, der Breite, der Tageslänge und der
|L_32 Jahreszeiten kürzlich gewiesen.
|P_005_
|L_01 Abhandlung.
|L_02 1. Allgemeiner Theil der physischen Geographie.
|L_03 Erstes Hauptstück.
|L_04 Vom Meere.
|L_05 Dessen Eintheilung in den Ocean, die mittelländischen Meere und
|L_06 die Seen. Von Archipelagis. Von den Busen, Meerengen, Häfen, Ankerplätzen.
|L_07 vom Boden des Meeres und dessen Beschaffenheit. Von der
|L_08 Tiefe desselben, in verschiedenen Meeren gegen einander verglichen. Vom
|L_09 Senkblei und der Täucherglocke. Methoden, versunkene Sachen in die
|L_10 Höhe zu bringen. Vom Druck des Meerwassers. Von seiner Salzigkeit.
|L_11 Verschiedene Meinungen der Ursache derselben. Zubereitung des Meersalzes.
|L_12 Methoden, Seewasser süß zu machen. Von der Durchsichtigkeit,
|L_13 dem Leuchten, der Farbe desselben und den Ursachen ihrer Verschiedenheit.
|L_14 Von der Kälte und Wärme desselben in unterschiedlichen Tiefen. Ob das
|L_15 Weltmeer in allen seinen Theilen gleich hoch stehe. Warum das Meer von
|L_16 den Flüssen nicht voller werde. Ob Meere und Seen eine unterirdische
|L_17 Gemeinschaft haben. Bewegung des Meeres durch die Stürme. Wie weit
|L_18 dieselbe sich in der Tiefe erstrecke. Die Meere und Seen, die am unruhigsten
|L_19 sind. Von der Ebbe und Fluth. Gesetze derselben und Ursache. Abweichung
|L_20 von diesen Gesetzen. Allgemeine Bewegung des Meeres. Wie
|L_21 diese durch die Küsten und Felsen anders bestimmt werde. Von den Meerströmen.
|L_22 Von Meerstrudeln. Ursachen derselben. Von dem Zuge der
|L_23 Wasser in den Meerengen. Vom Eismeer. Schwimmende Eisfelder.
|L_24 Nordisches Treibholz. Einige andere Merkwürdigkeiten. Von Klippen
|L_25 und Sandbänken. Von inländischen Seen und Morästen. Merkwürdige
|L_26 Seen wie der Cirknitzer und andere.
|L_27 Zweites Hauptstück.
|L_28 Geschichte des festen Landes und der Inseln.
|L_29 Von den unbekannten Ländern, die es entweder gänzlich oder zum
|L_30 Theil sind. Die Berge, Gebirge, das feste Land und die Inseln in einem
|L_31 systematischen Begriffe betrachtet. Von Vorgebirgen, Halbinseln, Landengen.
|L_32 Verglichene Höhe der namhaftesten Berge über den ganzen Erdkreis.
|L_33 Allerlei Beobachtungen auf ihren Spitzen in verschiedenen Welttheilen.
|P_006_
|L_01 Vom Gletscher oder dem schweizerischen Eismeere. Methoden, ihre
|L_02 Höhe zu messen. Von den natürlichen und künstlichen Höhlen und Klüften.
|L_03 Von der Structur des Erdklumpens. Den stratis ihrer Materie. Ordnung
|L_04 und Lage. Von den Erzgängen. Von der Wärme, Kälte und der
|L_05 Luft in verschiedenen Tiefen. Historie der Erdbeben und feuerspeienden
|L_06 Berge auf der ganzen Erdkugel. Betrachtung der Inseln, sowohl derer,
|L_07 die gewiß als solche erkannt werden, als von denen es zweifelhaft ist.
|L_08 Drittes Hauptstück.
|L_09 Geschichte der Quellen und Brunnen.
|L_10 Verschiedene Hypothesen von ihrem Ursprung. Beobachtungen, daraus
|L_11 derselbe kann erkannt werden. Quellen, welche periodisch fließen. Versteinernde,
|L_12 mineralische, heiße und überaus kalte Quellen. Vom Cementwasser.
|L_13 Entzündbare Brunnen. Vom Petroleo und Naphta. Von Veränderung,
|L_14 dem Entstehen und Vergehen der Quellen. Vom Graben der
|L_15 Brunnen.
|L_16 Viertes Hauptstück.
|L_17 Geschichte der Flüsse und Bäche.
|L_18 Ursprung der Flüsse. Vergleichung der merkwürdigsten auf der Erde
|L_19 in Ansehung der Länge ihres Laufs, ihrer Schnelligkeit, der Menge ihres
|L_20 Wassers; von ihrer Richtung, der Größe ihres Abhanges, Aufschwellung,
|L_21 Überschwemmung, Dämmen und Buhnen, den berühmtesten Canälen.
|L_22 Von Wasserfällen. Von Flüssen, die im Lande versiegen. Von solchen,
|L_23 die sich unter die Erde verbergen und wieder hervorkommen. Von Flüssen,
|L_24 die Goldsand führen. Methode es abzusondern. Von der unterschiedenen
|L_25 Schwere des Wassers der Flüsse.
|L_26 Fünftes Hauptstück.
|L_27 Geschichte des Luftkreises.
|L_28 Höhe der Atmosphäre. Die drei Regionen derselben. Vergleichung
|L_29 der Eigenschaften der Luft in verschiedenen Weltgegenden, in Ansehung
|L_30 der Schwere, Trockenheit, Feuchtigkeit, Gesundheit. Betrachtung ihrer
|L_31 Eigenschaft in großen Höhen und Tiefen. Wirkung der Luft auf das Licht
|L_32 der Sterne in verschiedenen Ländern.
|P_007_
|L_01 Geschichte der Winde.
|L_02 Die vornehmsten und geringern Ursachen derselben. Ihre Eintheilung
|L_03 nach den Weltgegenden. Winde von verschiedenen Eigenschaften,
|L_04 der Trockenheit, Feuchte, Wärme, Kälte und Gesundheit. Vom Passatwinde,
|L_05 dessen allgemeinen und besondern Gesetzen nach Beschaffenheit der
|L_06 Erdstriche. Von den Moussons. Von den abwechselnden See- und Landwinden.
|L_07 Von denen, die in einer Gegend die mehreste Zeit herrschen. Von
|L_08 der Schnelligkeit der Winde. Von den Windstillen, den Stürmen, Orkanen,
|L_09 Typhons, der Wasserhose und Wolkenbrüchen, nach den Weltgegenden,
|L_10 worin sie herrschen, ihren Gesetzen und Ursachen erwogen. Die
|L_11 Winde in verschiedenen Erhöhungen von der Erde mit einander verglichen.
|L_12 Kurze Betrachtung einiger besondern Luftbegebenheiten.
|L_13 Sechstes Hauptstück.
|L_14 Von dem Zusammenhange der Witterung mit dem Erdstriche
|L_15 oder den Jahreszeiten in verschiedenen Ländern.
|L_16 Worin der Winter in der heißen Zone bestehe. Warum nicht in allen
|L_17 Erdstrichen, die eben dasselbe Klima haben, der Winter oder Sommer zu
|L_18 gleicher Zeit und auf gleiche Art geschieht. Woher der heiße Erdstrich bewohnbar
|L_19 sei. Aufzählung der Länder, die unter einem Himmelsstriche
|L_20 liegen und doch in Ansehung der Wärme und Kälte sehr unterschieden
|L_21 sind. Von der Kälte in dem südlichen Ocean und Ursache derselben. Von
|L_22 den Gegenden der größten Hitze und Kälte auf dem Erdboden, den
|L_23 Graden und Wirkungen derselben. Von Ländern, darin es niemals, und
|L_24 andern, darin es fast beständig regnet.
|L_25 Siebentes Hauptstück.
|L_26 Geschichte der großen Veränderungen, die die Erde ehedem
|L_27 erlitten hat.
|L_28 a) Von den Veränderungen, die auf derselben noch fortdauren.
|L_29 Wirkung der Flüsse in Veränderung der Gestalt der Erde aus den
|L_30 Exempeln des Nils, Amazonenstroms, Missisippi und anderer. Wirkungen
|L_31 des Regens und der Gießbäche. Ob das feste Land immer erniedrigt und
|L_32 das Meer nach und nach erhöht werde. Von der Wirkung der Winde auf
|P_008_
|L_01 die Veränderung der Erdgestalt. Von der Veränderung derselben durch
|L_02 Erdbeben. Durch den Menschen. Bestätigung durch Beispiele. Von der
|L_03 fortdaurenden Veränderung des festen Landes in Meer und des Meeres
|L_04 in festes Land. Beobachtungen hievon und Meinungen von den Folgen
|L_05 derselben. Hypothese des Linnäus. Ob die Bewegungen der Erde, die
|L_06 tägliche sowohl als die jährliche, einer Veränderung unterworfen seien.
|L_07 b) Denkmale der Veränderung der Erde in den ältesten Zeiten.
|L_08 Alles feste Land ist ehedem der Boden des Meeres gewesen. Beweisthümer
|L_09 aus den in der Erde und auf hohen Bergen befindlichen Muschelschichten,
|L_10 versteinerten oder in Stein abgeformten Seethieren und Seepflanzen.
|L_11 Beweisthümer des Buffons aus der Gestalt der Gebirge. Daß
|L_12 die Veränderung des festen Landes in Meer und des Meeres in festes
|L_13 Land in langen Perioden oftermals auf einander gefolgt sei; aus den
|L_14 stratis, welche Überbleibsel des Seegrundes enthalten und mit denen, so
|L_15 Producte des festen Landes in sich schließen, abwechseln, bewiesen. Von
|L_16 unterirdischen Wäldern. Lage ihrer verschütteten Bäume. Woher in diesen
|L_17 Erdschichten mehrentheils von indianischen Thieren und Gewächsen Überbleibsel
|L_18 anzutreffen seien. Beurtheilung der sogenannten Spiele der
|L_19 Natur. Von den Steinen, welche eigentlich versteinerte Teile aus dem
|L_20 Thierreich sind.
|L_21 c) Theorie der Erde, oder Gründe der alten Geschichte derselben.
|L_22 Ob eine einzige allgemeine Überschwemmung wie die Noachische alle
|L_23 diese Veränderungen habe hervorbringen können. Allgemeine Betrachtung
|L_24 der Gestalt des festen Landes, der Richtung und des Abhanges der Gebirge,
|L_25 der Landesspitzen und Inseln, aus deren Analogie auf die Ursache
|L_26 ihres Ursprungs und ihrer Veränderungen geschlossen wird. Folgerung
|L_27 aus der Beschaffenheit der Erdschichten und dem, was sie in sich enthalten.
|L_28 Ob die Achse der Erde sich ehedem verändert habe. Beurtheilung der
|L_29 Hypothesen des Woodward, Burnet, Whiston, Leibniz, Buffon
|L_30 u.a.m. Resultat aus den verglichenen Beurtheilungen.
|L_31 Achtes Hauptstück.
|L_32 Von der Schifffahrt.
|L_33 Von den Rhombis, der Loxodromie, der Schiffsrose, der Schätzung
|L_34 des Weges und Correction derselben. Von Erfindung der Länge und
|P_009_
|L_01 Breite. Prüfung des Grundes. Andere Merkwürdigkeiten bei der Seefahrt.
|L_02 Von den merkwürdigsten Seereisen alter und neuer Zeiten. Von
|L_03 der Vermuthung neuer Länder und den Bemühungen sie zu entdecken.
|L_04 2. Der physischen Geographie besonderer Theil.
|L_05 1) Das Thierreich, darin der Mensch nach dem Unterschiede seiner
|L_06 natürlichen Bildung und Farbe in verschiedenen Gegenden der Erde auf
|L_07 eine vergleichende Art betrachtet wird; zweitens die merkwürdigsten
|L_08 Thiere, sowohl die auf dem Lande als in der Luft als auch im Wasser sich
|L_09 aufhalten, die Amphibien und merkwürdigste Insecten, nach der Geschichte
|L_10 ihrer Natur erwogen werden.
|L_11 2) Das Pflanzenreich, davon alle diejenige Gewächse der Erde,
|L_12 die die Aufmerksamkeit entweder durch ihre Seltsamkeit oder besondern
|L_13 Nutzen vornehmlich auf sich ziehen, erklärt werden.
|L_14 3) Das Mineralreich, dessen angenehmste und in den menschlichen
|L_15 Nutzen oder Vergnügen am meisten einfließende Merkwürdigkeiten auf
|L_16 eine historische und philosophische Art durchgegangen werden.
|L_17 Ich trage dieses zuerst in der natürlichen Ordnung der Classen vor
|L_18 und gehe zuletzt in geographischer Lehrart alle Länder der Erde durch, um
|L_19 die Neigungen der Menschen, die aus dem Himmelsstriche, darin sie leben,
|L_20 herfließen, die Mannigfaltigkeit ihrer Vorurtheile und Denkungsart, in
|L_21 so fern dieses alles dazu dienen kann, den Menschen näher mit sich selbst
|L_22 bekannt zu machen, einen kurzen Begriff ihrer Künste, Handlung und
|L_23 Wissenschaft, eine Erzählung der oben schon erklärten Landesproducte an
|L_24 ihren gehörigen Orten, die Luftbeschaffenheit u. s. w., mit einem Worte,
|L_25 alles, was zur physischen Erdbetrachtung gehört, darzulegen.
|L_26 Alles wird in schriftlichen summarischen Aufsätzen, welche zur leichteren
|L_27 Wiederholung dieser ohnedem durch ihre Annehmlichkeit die Aufmerksamkeit
|L_28 genug unterhaltenden Wissenschaft dienen sollen, zusammen
|L_29 gefaßt werden.
* * *
|L_30 Die Wissenschaft, wovon gegenwärtiger Abriß einen Entwurf darlegt,|P_010_
|L_01 D. Eberhard in besondern Vorlesungen erklären. Die Logik wird nach
|L_02 der Meierischen kurzen Einleitung und die Metaphysik nach der Anweisung
|L_03 des Baumeisters gelesen. Ich habe im verwichenen halben
|L_04 Jahre auf Verlangen einiger Herren diesen Wechsel mit dem zwar gründlichern,
|L_05 aber schwereren Baumgarten zu ihrer Befriedigung angestellt.
|L_06 Man wird indessen die Freiheit der Wahl haben, von welchem von beiden
|L_07 man sich größere Vortheile versprechen wird. In der Mathematik werden
|L_08 die alten Vorlesungen fortgesetzt und neue angefangen. Meine Bemühungen
|L_09 werden glücklich genug sein, wenn sie den Beifall derjenigen, die
|L_10 zwar nicht den größten, doch schätzbarsten Theil ausmachen, nämlich der
|L_11 Vernünftigen, erwerben können.
|L_12 Anhang einer kurzen Betrachtung
|L_13 über die Frage:
|L_14 Ob die Westwinde in unseren Gegenden darum feucht seien,
|L_15 weil sie über ein großes Meer streichen.
|L_16 Wenn man die Ursache der Naturbegebenheiten, die von der Himmelsgegend
|L_17 und Beschaffenheit der Erdstriche abhängen, einsehen will, so läuft
|L_18 man oft Gefahr sein System durch eine nicht vorhergesehene Instanz über
|L_19 den Haufen fallen zu sehen, wenn man nicht vorher verglichene Erscheinungen
|L_20 und Beobachtungen anderer Länder zu rathe gezogen hat. Es
|L_21 fällt jedermann leicht ein, die nasse Witterung, die uns die Westwinde
|L_22 zuziehen, der Lage unseres Landes zuzuschreiben, welchem ein großes Meer
|L_23 gegen Abend liegt. Allein diese so leicht, so natürlich scheinende Erklärung
|L_24 wird durch Vergleichung mit der Witterung anderer Länder sehr zweifelhaft
|L_25 gemacht, wo nicht gänzlich aufgehoben. Musschenbroek, der sonst
|L_26 eben derselben Meinung zugethan ist, wird dennoch darin ein wenig ungewiß,
|L_27 wenn er erwägt, daß der Nordwind in den Niederlanden ein
|L_28 trockener Wind sei, ob er gleich über das große deutsche Meer und selbst
|L_29 über den nordischen Ocean streicht. Er schreibt seine Trockenheit der Kälte
|L_30 desselben zu. Allein wenn im Sommer die Sonne diesen Ocean hinlänglich
|L_31 erwärmt, so fällt dieser Vorwand Weg, und der Wind bleibt dem ungeachtet
|L_32 trocken. Man findet aber in der physischen Geographie noch
|L_33 stärkere Gründe wider die gemeine Meinung.
|P_011_
|L_01 In dem ganzen indischen Ocean vom Archipelagus der Philippinen
|L_02 an bis in das Arabische Meer herrschen das Jahr hindurch zwei Wechselwinde:
|L_03 der Nordostwind vom October bis in den Mai und der Südwestwind
|L_04 vom Mai bis in den October. Der erste führt eine heitere Luft mit
|L_05 sich, und der letzte ist die Ursache der Regenmonate in diesen Ländern,
|L_06 obgleich einer sowohl als der andere über große Meere streicht. Bei den
|L_07 philippinischen Inseln, in Mindanao und den übrigen, wird dieses noch
|L_08 sichtbarer. Der ostliche Mousson kommt über das fast gränzenlose stille
|L_09 Meer her und bringt dennoch heiter Wetter zuwege; dagegen der westliche
|L_10 Wechselwind, der über Gegenden streicht, die mit Inseln und Landesspitzen
|L_11 besäet sind, die Regenzeit mit sich führt. Kolbe führt an, daß auf
|L_12 dem Vorgebirge der guten Hoffnung, sowohl auf der westlichen als ostlichen
|L_13 dazu gehörigen Gegend, die Ostwinde das trockene Wetter, die
|L_14 Westwinde aber die nasse Jahreszeit zuwege bringen, obgleich nicht abzusehen
|L_15 ist, warum der Westwind lediglich feucht sein sollte, da gegen Osten
|L_16 ein ebenso weites Meer als gegen Westen liegt. In dem mexikanischen
|L_17 Meerbusen an der Landenge von Panama, in Carthagena und anderwärts
|L_18 wechseln so wie im indischen Meere die N.O.- und W.S.W.-Winde
|L_19 die zwei Jahreshälften hindurch. Die ersten, welche man Brisen nennt,
|L_20 sind trocken und machen eine heitere Luft. Die letzte, welche man Vendavalen
|L_21 nennt, sind feucht, und mit ihnen kommt die Regenzeit. Nun
|L_22 kommen aber die N.O.-Winde über den großen Atlantischen Ocean und
|L_23 sind nichtsdestoweniger trocken. Die W.S.W.-Winde aber können von
|L_24 keinem großen Striche des stillen Meeres herkommen, weil in einer mittelmäßigen
|L_25 Entfernung vom festen Lande beständige Ostwinde diese See beherrschen.
|L_26 Auf der Fahrt, die die manillische Gallion von Acapulco nach
|L_27 Manilla anstellt, und da sie, um den Ostwind zu genießen, sich nicht weit
|L_28 vom Äquator entfernt, findet sie fast beständig heiteres Wetter. Allein
|L_29 bei der Reise von Manilla nach Acapulco, da sie auf eine gewisse Höhe
|L_30 über den nordlichen Wendezirkel steuret, fährt sie mit Hülfe der daselbst
|L_31 herrschenden Westwinde nach Amerika und ist so gewiß daselbst öftere
|L_32 Regen anzutreffen, daß sie sich auf diese lange Fahrt nicht einmal mit
|L_33 Wasser versorgt, und alle verloren sein würden, wenn sie ausbleiben sollten.
|L_34 Nun sage man mir, wenn man die gemeine Meinung behauptet, eine
|L_35 begreifliche Ursache, warum der Ostwind, der auf dem stillen Meere und
|L_36 zwar in der wärmsten Gegend streicht, allein trocken, der Westwind aber,
|L_37 der über denselben Ocean weht, feucht und regenhaft sein müsse.
|P_012_
|L_01 Mich dünkt, dieses sei mehr als zureichend, den Gedanken zum
|L_02 wenigsten zweifelhaft zu machen: daß bei uns die Westwinde ihre Feuchtigkeit
|L_03 von dem gegen Westen gelegenen Meere entlehnen. Es scheint vielmehr,
|L_04 daß die Westwinde in allen Gegenden der Erde eine Ursache der
|L_05 feuchten Witterung abgeben, ob ich gleich nicht in Abrede sein will: daß
|L_06 die Beschaffenheit der Gegenden, darüber sie streichen, öfters diese Eigenschaft
|L_07 verringern könne; so wie in dem südlichen Theile von Persien geschieht,
|L_08 da die Südwestwinde, welche über die verbrannte Gegenden von
|L_09 Arabien ziehen, dürre und heiße Luft mit sich führen. Die Enge des
|L_10 Raumes hindert mich die Ursache von dieser Eigenschaft der Westwinde
|L_11 zu erklären. Sollten nicht dieselbe, da sie dem allgemeinen und natürlichen
|L_12 Zuge der Luft von Morgen gegen Abend, der in dem vierten Cap. der
|L_13 phys. Geographie erklärt wird, entgegen streichen, eben um deswillen
|L_14 die Dünste zusammen treiben und verdicken, damit die Luft jederzeit erfüllt
|L_15 ist? Zum wenigsten, wenn man die Luft als ein Auflösungsmittel
|L_16 (menstruum) der Feuchtigkeit auf der Erde ansieht, so ist es nicht genug
|L_17 sie mit dieser bis zur Sättigung angefüllt anzunehmen, wenn man erklären
|L_18 will, warum sie dieselbe fallen lasse, d. i. warum es regne, sondern
|L_19 man muß eine Ursache anzeigen, die sie niederschlägt (präcipitirt), das ist,
|L_20 die die Luft nöthigt, sie aus ihren Zwischenräumen fahren zu lassen, damit
|L_21 die Dünste sich vereinigen und herabfallen können.
* * *
1) Erdklumpens. Den stratis ihrer Materie.] => Erdklumpens: Den stratis, ihrer Materie,
2) Vom Graben der Brunnen] Anscheinend zielt dieser Hinweis auf einen eigenen Abschnitt, der den Bau von Brunnen thematisieren sollte. Im Ms Holstein und den späteren Nachschriften der Vorlesung ist davon jedoch allenfalls beiläufig die Rede; vgl. Holstein p. 41f., 288; Hesse p. 44R, Powalski p. 94, Kaehler p. 183f., 200.
3) ehedem verändert habe] Das Thema wird auch im Ms Holstein nicht ausgeführt; es klingt referierend (p. 98) an, um auch abschließend nur gestreift zu werden, p. 106: »Es ist auch hieraus zu sehen, daß weil durch die hin und wieder entstandene Berge die Gleichheit in der Kraft des Umschwungs der Erde um die Axe verändert worden, die Axe der Erde sich geändert habe [...].« Dieselbe Position in der frühen R 93 am Schluß (XIV: 575,01f.) - Mitte der 1770er Jahre wird eine derartige Pendelbewegung der Erdachse negiert; Ms Kaehler p. 30: »[...], folglich kann das gantze feste Land ihn nicht verrükken, und die Axe der Erde kann sich also auch nicht verrükken, sondern sie bleibt beständig.« - Dagegen Ms Barth p. 104. Für die letzten Jahre vgl. R 83 und 84 (XIV: 541) | Zur Thematik Adickes 1911a, S. 49ff. (§ 15). Außerhalb der ›Physischen Geographie‹ vgl. Anthropologie-Friedländer (XXV: 696f.): Allerdings fällt sachlich gesehen auf, daß die ›Schiefe der Ekliptik‹ primär für den Wechsel die jahreszeitlich bedingten Klimaschwankungen auf der Erde verantwortlich ist. Die in der Anthropologie angesprochene »Gleichheit der Tage und Nächte« zielt eher auf die im Laufe eines Jahres außerhalb der Äquatorregion erheblich schwankenden Tageshelligkeiten. Die Tageslänge selbst (24 h) ist allein abhängig von der Dauer der Rotation der Erde um die eigene Achse.
4) vierten Cap.] Offensichtlich liegt der Formulierung noch ein andere (ältere ?) Disposition oder eine Verwechslung zugrunde, denn: Die »Geschichte der Winde« zählt im vorliegenden Programm (Sommer 1757) zum fünften Hauptstück und das Ms Holstein (1757/59) verhandelt das Thema erst im sechsten Hauptstück. Der allgemeine, primäre Ostwind ist als solcher freilich schon im ersten Vorlesungsprogramm (Sommer 1756) das beherrschende Theorem der »Vierten Anmerkung« vgl. (I: 496-498); bzw. im Ms Holstein p. 71-74.