August Wilhelm von Schlegel an Wilhelm von Humboldt, 21.02.1826

Bonn den 21sten Februar 1826.

Ew. Excellenz haben die gerechteste Ursache von der Welt, ungehalten zu seyn. Daß Sie den Briefwechsel eine Zeitlang hatten ruhen lassen, war ganz in der Ordnung, und Ew. Excellenz durften darüber keine Sylbe verlieren. Ich besitze eine reichhaltige Sammlung Ihrer Briefe, woraus ich oft neue Anregung und Belehrung schöpfe. Jede Bereicherung ist unendlich willkommen. Wenn aber Ew. Excellenz unter so tiefen und weitumfassenden Forschungen, die Sie mit unermüdlicher Thätigkeit verfolgen, keine Muße finden, mir zu schreiben, so bescheide ich mich gern, daß mein persönliches Interesse gegen das allgemeine zurückstehen muß, und bin zufrieden, wenn ich nur auf andern Wegen die Gewißheit von Ihrer ununterbrochenen Heiterkeit und Gesundheit erhalte; und dieß war in jenem Zeitraume der Fall. Daß ich hingegen eine solche Sendung, wie Ihre letzte ist, so lange unbeantwortet lassen konnte, ist unerhört und unverantwortlich. Ich will nicht versuchen, es zu entschuldigen; erklären könnte ich es wohl aus der Beschaffenheit der Störungen, die ununterbrochen auf einander folgten, und mit solchen Studien ganz unverträglich sind. Unter andern mußte ich, gleich nach Empfang Ihres Schreibens, außer dem Rectorat über zwei Monate die Stelle des Regierungs-Bevollmächtigten vertreten. Doch ich müßte meinen ganzen zeitherigen Lebenslauf erzählen, und dieß wäre ein unnützer Zeitverlust. Ich komme lieber gleich zur Hauptsache.

Ew. Excellenz können nicht bezweifeln, daß ich mich sehr glücklich schätze, mit Ihren Bemerkungen über die Bhagavad Gita meine Indische Bibliothek auszuzieren. Das meiner Übersetzung ertheilte Lob ist freilich wohl etwas zu stark, um es selbst abdrucken zu lassen: aber wer mag sich entschließen, so etwas auszuschlagen? Nur des Sanskrit kundige Leser können das einzelne verstehen; aber alle denkenden Leser werden bei den vortrefflichen allgemeinen Bemerkungen ihre Rechnung finden. Leider kann ich noch nicht melden, daß an der Indischen Bibliothek wirklich gedruckt wird. Im Kopfe habe ich den Stoff zu mehreren Heften fertig, aber auf dem Papiere sehr weniges. Wie sehr ich gestört gewesen, können Ew. Excellenz eben daraus ermessen, daß ich, ungeachtet des neuen Antriebes, den Ihr Aufsatz mir gab, dennoch kein Heft zu Stande gebracht.

Ich war schon lange gesonnen, Nachträge zur Kritik und Auslegung der Bhagavad Gita zu geben: da werden sich nun die Ihrigen vortrefflich anschließen. Wäre es aber nicht gut, die betreffenden Stellen von Langlois französisch mit abzudrucken? Meine etwanigen Nebenbemerkungen, beistimmend, bestätigend oder bezweifelnd, möchten, wenn Ew. Excellenz es genehmigen, in kleinerer Schrift unter die einzelnen Abschnitte, oder als Noten unter den Text gesetzt werden.

Die Erlaubniß, etwas als unrichtig wegzustreichen, ist mir zu bedenklich, um Gebrauch davon zu machen. Wo ich für jetzt nicht beistimmen kann, wird es meistens disputable Punkte betreffen. Indessen lege ich auf einem besondern Blatte einiges vor, was vielleicht Ew. Excellenz zur Zurücknahme oder Modification weniger Zeilen veranlassen könnte, und erwarte darüber Ihre Entscheidung.

Kaum wage ich eine schüchterne Bitte um die Auslassung eines einzigen Wortes, welches nur zweimal vorkommt. Es ist das Wort pantheistisch. Da hier die Lehre der Bhagavad Gita nicht im Ganzen erörtert wird, so kann es ja entbehrt werden, es dürfte bloß heißen: „in diesem System“. Überdieß steht es bei einem Satze, worin die christlichen Mystiker wohl so ziemlich mit dem Verfasser der Bhagavad Gita übereinstimmen. Hier bildet es ein Präjudiz als ob die Sache schon ausgemacht wäre. Wenn die Behauptung im allgemeinen ausgeführt wird, dann ist es etwas andres. Mein Bruder hat schon früher die Lehre der Bhagavad Gita für Pantheismus erklärt. Ich habe ihm widersprochen, und behauptet, was ihn hiezu vermocht, seyen starke Ausdrücke von der dynamischen Allgegenwart. Ist zum reinen Theismus durchaus die Lehre von der Extramundanität der Gottheit erfoderlich? Die Immanenz des Weltalls lehrt die Bhagavad Gita freilich, unbeschadet der Emanation. Ist es im strengen Pantheismus möglich, die Gottheit von der Natur zu unterscheiden? Hört nicht alle Religion, alles ich und du, zwischen dem Gemüthe und der Gottheit auf? Ist damit die Lehre von der Vermittlung, von einer Herablassung der Gottheit um die Creatur zu sich heraufzuziehen, verträglich, welche doch so klar in der Bhagavad Gita vorgetragen wird? Ich habe ehemals die Schriften der Mystiker viel gelesen: mich dünkt, sie theilen sich in zwei Hauptclassen, die Theosophen und die Mystiker des Gefühls. Meines Erachtens stimmt mein Indischer Weiser so ziemlich mit den theosophischen Mystikern überein; weniger mit den letzteren, weil bei diesen der Sinn für die Natur ganz erloschen ist, welcher bei ihm in ursprünglicher mythologischer Fülle lebt.

Bei den scharfsinnigen Bemerkungen über die Bildung des philosophischen Sprachgebrauchs wage ich es, folgendes Ihrer Beurtheilung vorzulegen. In der Regel sind freilich die metaphysischen Ausdrücke von sinnlichen Vorstellungen übertragen; sollte es nicht aber auch in einigen Sprachen, und namentlich im Sanskrit, ursprünglich metaphysische Wörter geben? Z. B. dēha von dih, wie dēśa von diś, ganz etymologisch richtig. Nun heißt aber dih beschmieren, beflecken, besudeln. Wilson giebt zwar eine zweite Bedeutung, von der er es ableiten will. Aber ich kann mich nicht erinnern, das Verbum und insbesondre das häufige Participium digdha jemals anders als in der obigen Bedeutung gefunden zu haben. Auch steht in dem Wurzel-Wörterbuch bei Carey bloß lipi, in der Englischen Übersetzung bei Wilkins ebenfalls. Wunderlich genug steht aber dabei bloß Eine mit seiner Auslegung gar nicht übereinstimmende Definition upachayē, welches die zweite Bedeutung von Wilson ist. Wieder einmal ein Beispiel, wie unsere Elementar-Bücher noch beschaffen sind und wie man sich überall selbst helfen, und die Augen offen haben muß! Wenn die zweite Bedeutung sich nicht praktisch bewährt, so bin ich sehr geneigt zu glauben, sie sei bloß von Indischen Grammatikern zum Behuf der Ableitung von dēha ersonnen. Ist es aber von dih in der Bedeutung von lipi, so liegt ja in dem einfachen Worte, wie im Keim, die ganze Platonische Lehre. Auch die andre Ableitung hat schon etwas wissenschaftliches. – Wie dem aber auch sei, das ist gewiß, daß bei den Indiern die Speculation so uralt und ihr Einfluß so überwiegend war, daß der metaphysische Sprachgebrauch in das Leben, wenigstens in die epische Poesie zurückgekehrt ist, und diese Erscheinung ist einzig in ihrer Art.

Meine Ansicht hängt freilich mit andern vielleicht paradoxen und deswegen besser esoterisch bleibenden Meynungen zusammen. Ich glaube nämlich, daß es ursprünglich tellurische, siderische und spirituale Sprachen giebt. Dieß würde auf die Eintheilung nach den drei gûńa’s hinauslaufen. Reine Exemplare von den drei Gattungen lassen sich freilich nicht nachweisen, man dürfte aber wohl versuchen, die Sprachen nach dem vorwaltenden Prinzip zu classifiziren.

Während ich dieses schrieb, empfing ich Ihre Abhandlung über die Buchstabenschrift, die ich sogleich verschlungen habe. In der Hauptsache bin ich ganz einverstanden. Mein einziger Zweifel ist nur der, ob nicht jene urweltliche Genialität, die bei der Erfindung der Buchstabenschrift gewaltet, jenes klare Bewußtseyn von den mit den Sprachorganen vorgenommenen und möglicher Weise vorzunehmenden Handlungen, von der symbolischen Bedeutung der Laute, ihrer Beziehung zu einander u. s. w.; ob, sage ich, jenes der Sprache bei ihrer Ausbildung nicht dieselben Dienste habe leisten können, als das materielle Vorhandenseyn der Buchstabenschrift?

Die Abweichung unsrer Ansichten – ich sage es mit Mistrauen gegen meine eigne Meynung – bezieht sich auf den Ursprung, und den frühesten Gang der menschlichen Cultur. Ich kann unmöglich die ersten großen Grundlagen als den späten und allmähligen Erfolg eines experimentirenden Herumtappens betrachten; sie scheinen mir ein genialischer Wurf zu seyn, wo alles mit Einemmale da ist, wie beim Anfange des organischen Lebens. Die Urväter des Menschengeschlechtes – einige, nicht alle; denn ich fürchte, ich bin in der dreifachen Ketzerei begriffen, ein Präadamit, ein Coadamit und ein Postadamit zu seyn – vergleiche ich mit Menschen, welche die Fähigkeit besessen hätten, in einem dunkeln Schacht durch die Kraft ihrer eignen Augen zu sehen, während unsre Bergleute sich der Lampen und Laternen bedienen müssen. Julius Caesar sagte, die Schrift habe das Gedächtniß zu Grunde gerichtet. Ist es nicht mit allen Dingen so? Je vollkommner die Hülfsmittel, desto mehr erlischt der inwohnende Sinn, das angebohrne Talent. Divinatorische Durchschauung der Natur, und von außen her erworbene Erfahrung scheinen mir die beiden Pole der menschlichen Cultur zu seyn; jenes der positive, dieses der negative. Wenn einmal in einem Zeitalter, wo das letzte Princip herrschend ist, jenes durchblitzt, so nimmt selbst das Experiment einen neuen Schwung, und die mechanischen Physiker, welche die Ideen läugnen, werden mehr von ihnen geleitet, als sie selbst wissen.

Um auf die Buchstabenschrift zurückzukommen, sie wäre also – da ihr Wesen in der Analyse der articulirten Laute besteht – virtualiter schon in der ältesten Zeit vorhanden gewesen, wenn es auch an zubereiteten Stoffen fehlte, um sie in Ausübung zu bringen.

Auch darin bin ich ganz einverstanden, daß eine gewisse todte und einförmige Regelmäßigkeit gar keine Vollkommenheit der Sprachen ist, Adelung hatte ganz richtig bemerkt, daß in der Deutschen Sprache die starke Conjugation (nach ihm die anomale) der schwachen mehr und mehr Platz einnähme. Aber der geistlose Grammatiker hielt dieß für eine Vervollkommung, während es doch nur eine Abstumpfung ist. Die Mannigfaltigkeit der Formen, zB. der Declinationen und Conjugationen scheint mir, wenigstens imaginativ, bedeutsam gewesen zu seyn, was nachher verloren ging. Grimm betrachtet alle Anomalien als später und zufällig entstanden. Dieses gilt von den meisten, aber ich muß auch ursprüngliche, symbolische Anomalien annehmen, z. B. die der Personal-Pronomina in unsrer Sprachfamilie, und diesen Gesichtspunkt vermißte ich in Bopps sonst vortrefflicher Abhandlung. Eben so ist es mit der grammatischen Homonymie, wenn nämlich ganz verschiedene Biegungen gleich lauten. Dieses Gebrechen entsteht meistens aus der Abstumpfung, und nimmt daher bei nicht fixirten Sprachen, wie bisher bei der unsrigen, immer zu. Sollte es nicht aber auch ursprüngliche grammatische Homonymien geben, die symbolisch sind? ZB. logisch betrachtet ist es gleichgültig ob Subject und Object belebte Wesen oder unbelebte Dinge sind; imaginativ aber keinesweges, denn das Unbelebte handelt und leidet nicht eigentlich: es wirkt und erfährt Wirkungen. Diese neutrale Stellung wird nun durch die Gleichheit des Accusativus und Nominativus der Neutra |angedeutet|, welche deswegen im Sanskrit, im Griechischen und Lateinischen eine wahre Schönheit ist. Im Deutschen ist es keine Schönheit mehr, weil so viele masculina und sämtliche feminina diese Eigenschaft mit den neutris gemein haben.

Ich kehre von meinen endlosen Abschweifungen zurück, um zu Ihrer Abhandlung eine kleine historische Bemerkung nachzutragen. Sie bemerken p. 1, daß die Chinesen die Europäische Buchstabenschrift verschmäht haben. Aber die Unmöglichkeit, sie ihrer Sprache anzueignen, erhellet doch noch weit stärker aus der unläugbaren Thatsache, daß die Indische Buchstabenschrift von den ersten Buddhistischen Missionaren überbracht worden war. Rémusat hat in einem eignen Aufsatze [a], ich weiß nicht mehr in welcher Zeitschrift, die Weise geschildert, wie ein chinesischer Autor von dieser fremden Theorie der Laute Rechenschaft giebt. Der Baron Schilling von Canstadt hat mir ein chinesisches Buch gezeigt, wo in einer Columne indische Sylben standen, in der nächsten die Lautbezeichnung, in chinesischer Schrift, in einer dritten die Bedeutung. Ohne Zweifel waren es mantra’s, ich hatte nicht Muße es näher zu untersuchen.

Nun noch einiges über meine französischen Kritiker und meine zu machenden Antikritiken. Wird es Ew. Excellenz unangenehm seyn, wenn ich in der Nachbarschaft Ihres so milden und ruhigen Aufsatzes mir einigen Spott über Chézy und Langlois erlaube? Nach Ihrer gütigen Gesinnung für mich hatten die Artikel des letzteren Sie indignirt, und Sie hatten die magistrale Recension noch nicht gelesen. Auf Colebrooke haben sie denselben Eindruck gemacht. Er schrieb mir: The articles, to which you allude in the Journal Asiatique, had not escaped me. I regretted to observe the tone of them. Such is not the spirit, which fellow-labourers in the great cause of Oriental litterature should evince towards each other. Nun stellen Sie sich meine Ataraxie vor: bis jetzt eben, wo ich Ihre Bemerkungen genau von neuem durchging, hatte ich jene kaum flüchtig gelesen. Freilich wußte ich im voraus, daß Chézys Eifersucht zu einer wahren Wuth gesteigert war. Dieses dauert noch immer fort, und ist eine wahre Tragi-Komödie. Seine Absicht war im Journal Asiatique mich noch weit gröber anzugreifen, aber Rémusat protestirte nachdrücklich dagegen, und so wurden dem Langlois die Höflichkeiten in seinem ersten Artikel abgedrungen.

In London bat ich Colebrooke, für meine Rechnung Commentare des Bhagavad Gita aus Calcutta zu verschreiben. Ich gedachte erst jede Beantwortung der Kritiken bis auf deren Ankunft zu verschieben, weil es sonst gewissermaßen ein Kampf mit ungleichen Waffen ist, da meine Gegner sich immer auf die Autorität des Scholiasten berufen. Indessen, da die Commentare leider nicht ankommen, so werden die Delinquenten doch nun wohl bei den nächsten Assisen vorgenommen werden müssen. Ich besitze nur das 2te Capitel der Subôdhinê, in meiner eignen Abschrift; und dieses leistet mir schon gute Dienste. Zuverläßig hat Langlois – folglich auch Chézy – den Commentator häufig misverstanden. Er hat Cahier 34, p. 248 ad Bh.G. XI, 22, nicht gemerkt, daß das von ihm abgeschriebene Scholion eine Citation aus den Véda’s enthält.

Folgendes hätte mir gleich beim Empfange Ihres Schreibens einfallen sollen, und ich hole es mit Beschämung nach. Mein Schüler hat einen vollständigen und sauber geschriebenen Index Verborum zur Bhagavad Gita verfertigt: könnte dieser Ew. Excellenz bei der Beschäftigung mit dem Inhalte bequem seyn, so bin ich bereit ihn auf eine Zeitlang zu übersenden. Freilich müßte ich ihn bei der Antikritik zur Hand haben, aber diese kann ich wohl vorher abthun.

Ich bin fast entschlossen, sie französisch zu schreiben, damit sie doch an die rechte Adresse gelangt.

Wenn die Tugend in einer Mitte zwischen zwei Extremen besteht, so übe ich sie beim Briefwechsel gewiß nicht aus, indem ich entweder gar nicht oder endlos lange Briefe schreibe. Ich schließe mit dem Versprechen, mich wo möglich in beiden Punkten zu bessern. Mit unwandelbarer Verehrung und Ergebenheit
Ew. Excellenz
gehorsamster
AWvSchlegel.

Eine Sendung von einigen gedruckten Sachen, lateinischen und deutschen, wird hoffentlich richtig angekommen seyn.

Fußnoten

    1. a |Editor| "Sur un vocabulaire philosophique en cinq langues, imprimé à Peking". In: Mélanges asiatiques 1, S. 153.