Wilhelm von Humboldt an August Wilhelm von Schlegel, 08.04.1823

Berlin, den 8. April, 1823.

Ew. Hochwohlgebohrnen sage ich meinen freundschaftlichsten Dank für Ihren gütigen und belehrenden Brief vom 21. v. M. Ich habe ihn mit dem größesten Vergnügen gelesen, und die darin angeführten Sanskritstellen genau verglichen. Für die gütige Sorgfalt, die Sie meiner Abhandlung widmen, bin ich Ihnen ungemein verbunden, es thut mir aber sehr leid, daß ich sehe, daß sie Ihnen so viele Mühe mit dem Setzen der Indischen Stellen macht. Sie verdient wirklich nicht die Auszeichnung, daß Sie selbst dabei Hand an das Werk legen. Indeß kann ich mir freilich denken, daß es sehr schwer seyn muß, schon jetzt diesen Druck Setzern anzuvertrauen. Haben Sie wohl den Bernsteinischen Anfang des Hitopadesa gesehen? für Steindruck nimmt es sich ganz artig aus. Doch kann man immer nur von beweglichen Lettern wahre Fortschritte im Drucken von Sanskrit Werken erwarten. Vom Seinigen scheint in diesem Abdruck, die Wortabtheilung ausgenommen, wenig hinzugethan, u. eine wörtliche Uebersetzung wäre in der That wünschenswerth gewesen, da die Englischen gar nicht zu brauchen sind. Auf der ersten Seite gleich hat er zwar Wilkins  {hitopadeśāyaṃ} verworfen, aber sein minus recte ließe sich vielleicht besser auf das von ihm, ohne Elisionszeichen gesetzte {deśoyaṃ} anwenden. Denn Wilkins Lesart scheint mir ganz falsch, da {aḥ} mit einem andern {a} nicht in ein langes übergehen kann. Ew. Hochwohlgebohrnen aber, nicht wahr, billigen auch nicht die Weglassung der Elisionszeichen, besonders wenn man sie, wie Bernstein thut, manchmal setzt, manchmal ausläßt? In der Calcutter Ausgabe des Ramayana[a] ist dies zwar auch der Fall, allein diese dürfte auch nicht nachzuahmen seyn.

Auf den Bhagavad-Gîtá bin ich überaus begierig, und denke mich, vorzüglich wenn ich ihn von hier in einigen Wochen zu erhalten das Glück haben kann, diesen Sommer damit zu beschäftigen. Ein mit solcher Kenntniß u. Sorgfalt bearbeitetes Werk recht wiederholt u. gründlich zu studiren, ist unstreitig die beste Manier eine Sprache zu erlernen, u. dies habe ich mir vorgesetzt damit zu thun. Da ich doch durch andre Dinge verhindert werde, mich fast ausschließlich mit dem Sanskrit zu beschäftigen, muß ich doch auf eine ausgebreitete Lectüre Verzicht leisten, u. möchte lieber die Sprache u. grammatische Form in wenigen, aber oft wiedergelesenen Büchern studiren.

Es hat mich sehr gefreut, daß etwas, das ich über den Locativus im Hitopadesa gesagt hatte, mir eine so schöne Uebersetzung eines Distichon verschafft hat. Ich bin überzeugt, daß, wenn Ew. Hochwohlgebohrnen es der Mühe werth hielten, Stücke in dem Originalsilbenmaße zu übersetzen, es Ihnen vortreflich gelingen würde, u. dann ist dies Silbenmaß für eigentliche Uebersetzungen doch passender, als der Hexameter. Dieser scheint mir immer zu sehr  an das Griechische Epos zu erinnern, u. der Unterschied zwischen diesem u. dem Indischen ist gerade im höchsten Grade interessant. Das letzte kommt mir, wenige Stellen ausgenommen, immer mehr didaktisch u. lyrisch, als wahrhaft episch vor, u. wenn man einzelne Stellen beachtet u. analysirt, so findet man ganze Verse, wo die Wörter aus lauter fast metaphysischen Ideen zusammengesetzt sind. Ueberhaupt ist, wenn ich mich nicht irre, eine viel größere Masse abstrakter, oder rein logischer Begriffe u. Wortelemente, als anschaulicher u. sinnlicher. In Homer u. den Griechen ist es gerade umgekehrt. Es ist dies freilich auch natürlich. Denn das Indische Epos ist doch immer zugleich, oft ganz heiliger Natur, Krieg u. Heldensinn spielen eine untergeordnete Rolle darin, u. das um welches sich Alles dreht, ist Brahmanen Heiligkeit, u. abgezognes Nachdenken. Diese objective Beschaffenheit wirkt auf die subjective Stimmung des Dichters, der nun auch mehr raisonnirt u. Empfindungen darstellt, als schildert u. erzählt. Es wäre sehr interessant, nur aus dem jetzt gedruckten Theil des Ramayana eine Sammlung wirklich schön zusammengesetzter metaphysischer Ausdrücke zu machen.

Ew. Hochwohlgebohrnen legen die Analyse der 12. ersten Seiten des Hitopadesa, die ich auch besitze, dem Prof. Haughton bei. Bopp sagte mir immer, sie sey von Hamilton, er sehe aber nicht gern, daß man es sage, weil er selbst fühle, daß die Arbeit schwach sey. Auf Manus Gesetze machen mich Ew. Hochwohlgebohrnen sehr begierig. Ich habe noch gar nichts davon gelesen.

Das Asiatische Journal enthält recht viel sehr interessante Dinge, allein wie Sie richtig vermuthen, gar nichts für die Indische Literatur. Sehr merkwürdig sind die Versuche der Entzifferung der Persepolitanischen u. Aegyptisch hieratischen Schrift. Man scheint da doch dem Geheimniß viel näher zu kommen.

Der Druck des ganzen Ramayana ist freilich ein langes Unternehmen. Es wäre aber auch ein sehr schönes. Ich besitze auch vom jetzt Gedruckten leider nur den 1. u. 3. Theil,[b] u. als ich die Abhandlung schrieb, wo ich größtentheils auf dem Lande war, hatte ich nur den ersten.

Ew. Hochwohlgebohrnen sind sehr gütig, nach meinen Amerikanischen Untersuchungen zu fragen. Wenn man, wie ich doch für nöthig halte, Alles im Détail verfolgen will, ist es eine mühsame u. langsame Arbeit. Doch bin ich mit den einzelnen Grammatiken, deren ich einige zwanzig gemacht, bis auf wenige fertig. Zu den Wörterbüchern hat man leider noch weniger Materialien, ausführliche eigentlich nur von vier Sprachen. Mit diesem Theil wird man also eher fertig. Bis zu Ende des Jahres hoffe ich alle Vorarbeiten vollendet zu haben, u. dann an das Werk selbst gehen zu können. Ich werde es aber nicht übereilen, in Sprachuntersuchungen kann man nie zu viel zusammenfassen, u. da man doch immer zulernt, so bringt ein Verstreichen von einigen Jahren immer Gewinn. Ich glaube aber gewiß, daß eine vollständige u. aus dem richtigen Gesichtspunkt gemachte Darstellung der Amerikanischen Sprachen viele Aufklärungen über den Bau u. die Entstehung der Sprachen geben muß. Es sind soviel Naturspecimina von Sprachen, anders gebildet, als die unsrigen, mehr.

Die Versversetzungen, welche Sie für einige Stellen des Nalas vorschlagen, haben meine völligste Zustimmung, u. ebenso auch die von Bopp, dem ich Ihren Brief mittheilte. Er |sic|[c] steht nun an, ob man in Stellen, wo wie hier, die Handschriften mit Bengalischer u. Devanagari Schrift übereinstimmen, sich solche Aenderungen erlauben dürfe. {śakyase} hat er in der Stelle XI. 4–6. nicht für das Passivum genommen, sondern geglaubt, daß sich die Bedeutung des verb. 4. conjug. mit dem Infinitiv vereinigen lasse.

Mich über die Nischadas zu belehren, haben Ew, Hochwohlgeb. mir einen wahren Dienst erwiesen. Auch mir war nie deutlich, wie man auf einige Stellen den Castenbegriff anwenden konnte.

Was Sie von den Verben des Wollens sagen, bestätigt meine Bemerkung, wie es mir scheint. Denn in {vaśa} liegt doch auch der Nebenbegriff der Macht, des Ansehens. Was ich aber sagen wollte ist gerade, daß es kein Verbum im Indischen giebt, welches bloß u. einfach wollen anzeigte, ohne nicht auch (nicht gerade an jeder einzelnen Stelle, aber überhaupt) einen Nebenbegriff zu haben. Ich wünschte aber sehr, Sie fügten das von Ihnen Angeführte in Ihrem Namen bei, indem es die Sache offenbar vervollständigt. Daß Wilkins auch bei {vaś}  wish, desire hat[d], muß man wohl nicht so genau nehmen, wie Vieles bei ihm.

In nt. 35. §. 12. über das Können bitte ich Sie das Ende von Der reine Begriff u. s. f. an wegzulassen. Zwar glaube ich, daß man in dem Infinit. pass. doch dem {śak} seine passive Form anrechnen muß. Denn ich halte nicht dafür, daß man sie gewissermaßen auf den Infinitiv übertragen kann. Der Infinitiv wird, meines Erachtens, nicht activ, noch passiv, aber das ihn regierende  Verbum wird in einer Bedeutung genommen, in welcher nun, nach Art unsrer Sprachen, ein passiver Infin. hervorkommt. Allein die Paar in der Note gesagte Worte klären die Sache nicht genug auf, u. sie ist überhaupt schwer aufzuklären, da es ein sehr eigner Gebrauch ist. Wie ich es mir denke, ist es folgendermaßen. Der Indische Infinit. ist kein eigentlicher, der, als solcher, nothwendig ein activum u. passivum haben müßte, sondern ein Gerundium, das, seiner Natur nach, weder act. noch pass. sondern gegen diese Kategorie der grammatischen Form gleichgültig ist. Nun verbindet man im Sanskrit mit diesem gleichgültigen Gerundium das Können im Act. u. Passivum. Können kann aber auch kein pass. haben, das Können im Activum heißt also im Sanskrit angenommener Maßen ausschließlich eine Fähigkeit zu thun, im Passivum eine Fähigkeit zu leiden. Wird nun das Gerundium mit der Fähigkeit zu leiden verbunden, so ist in jeder[e] Sprache, die einen Infin. pass. hat, eine solche Redensart am besten durch diesen zu übersetzen. In der Stelle Nalas XX. 5. heißt es wörtlich übersetzt,  nicht: das Kleid kann nicht wiedergebracht werden, sondern das Kleid ist nicht fähig das Wiederbringen zu erleiden. Dies zu erleiden drückt die passive Form des Könnens aus. Sehr deutlich wird dies in dem Gegensatz der Stellen im Nal. XIV. 7. a. u. XXVI. 21. a. In der ersten steht {śakto} = {smi} fähig zu thun, in der andern {śakyā} fähig zu erfahren. Das Sehen in der letzten Stelle bleibt immer dasselbe, man mag {śakyā} oder {śaktā} setzen, allein im ersten Fall erleidet Damayanti es, im andren thut sie es, oder ist vielmehr fähig es zu leiden, oder zu thun. Man könnte aus diesen passiven Redensarten eine Einwendung gegen die Behauptung, daß der Sanskrit Infinit. ein Accusativus sey, hernehmen, indem man sagte, daß sich ein solcher von einem Passivum nicht regieren lasse, aber dies wäre gewiß unrichtig. Der Accusativ kann bei dieser Fähigkeit zu leiden sehr gut stehen, u. würde in andren Sprachen durch eine praeposition erläutert werden. {śaktaḥ} u. {śakyaḥ} kommen dem lateinischen potis gleich, das den Unterschied jener durch den Inf. act. u. pass. ausdrückt. Nun regiert potis in der Regel freilich den Infinitiv, allein bisweilen auch den Accusativus. So bei Varro: ut videamus quid pastores potis sunt.[f] Dies kommt der Sanskrit Redensart sehr nahe. Von   {śakyaḥ} mag dann derselbe Gebrauch auf das verbum übergetragen seyn. Immer aber bleibt dies act. u. pass. können logisch unrichtig. Denn das Können ist immer eine Kraft u. also eher der Natur eines Activums, selbst wenn dies Können auf ein Leiden gerichtet ist.

Ew. Hochwohlgebornen sind sehr gütig in nt. 31. §. 8. von einem kleinen Misverständniß zu sprechen, wo ein großes Versehen ist. Von einem sichtbaren part. act. wie von einem part. pass. zu sprechen, ist eine der unbegreiflichen Verblendungen, die Gottlob nur wenigen Menschen, mir aber leider nur zu oft begegnen. Ich sehe mit vorgefaßter Meinung eine Stelle an, u. werde dann bisweilen den offenbarsten Irrthum nicht gewahr. Denn sonst war es unmöglich {pālayataḥ} nicht für den Genitiv  anzusehen, u. daß er es nicht nach der 1. Declin. seyn konnte, fiel auch in die Augen. Sie werden wenigstens finden, daß meine Bitte an Sie, ja zu prüfen, ob nicht irgendwo ein arger Verstoß gemacht sey, nicht überflüssig war, u. aus richtiger Selbstkenntniß floß. Ich danke Ihnen ausnehmend mir erspart zu haben, damit vor dem Publicum zu erscheinen, u. bitte Sie in der nt. 31. die ganze Stelle: Auf gleiche Weise erkläre ich – in der intransitiven der ursprünglichen. wegzulassen. Ich würde diese Bitte auf die ganze Note ausdehnen, wenn ich das nicht für wichtig hielte, andre auf genauere Erörterung dieses wirklich schwierigen Punkts aufmerksam zu machen. Dies scheint mir überhaupt der Nutzen, den meine Abhandlung haben kann, mehrere Fragen anzuregen, auf die man in der bisherigen Art, das Sanskrit zu treiben, weniger gekommen war.

Ew. Hochwohlgebornen werden von dem Unglück des armen Wilken gehört haben. Leider dauert seine Geistesverrückung noch fort, u. da in 3 Tagen alle sogenannten kritischen Tage vorüber seyn werden, u. er kein Fieber mehr hat, so tritt nun die Besorgniß ein, daß das Uebel chronisch werden kann. Wenn man sieht, daß ein ruhiger, besonnener, gelehrter Mann so plötzlich durch zurückgetretene Gicht, oder was es sonst sey, um seinen Verstand kommen kann, so sollte man glauben, daß der Natur vielmehr an ihren chemischen Operationen im Körper u. der Welt, als an dem Verstande der Menschen gelegen sey.

Leben Sie herzlich wohl, u. lassen Sie mich bald hören, daß der Frühling jede der Klagen verscheucht hat, die Ihr Brief über Ihre Gesundheit enthält. Ich bin sehr wohl, u. habe auch von dem Winter wenig gelitten, allein mich ihm auch fast nicht ausgesetzt. Mit der hochachtungsvollsten Freundschaft,
der Ihrige,
Humboldt

Fußnoten

    1. a |Editor| Nach Friedrich Adelung (1837): Bibliotheca sanscrita. Literatur der Sanskrit-Sprache, St. Petersburg: Kray, S. 228 erschien 1813 in Calcutta ein Nachdruck von Careys und Marshmans dreibändiger Ramayana-Ausgabe aus den Jahren 1806–1810.
    2. b |Editor| Auch bei Schwarz 1993, S. 36 Nr. 244 sind nur der 1. und 3. Band der Seramporer Ausgabe verzeichnet.
    3. c |Editor| Leitzmann S. 137 korrigiert zu Es.
    4. d |Editor| Statt Wilkins' Grammatik ist hier das Wörterbuch von Wilson gemeint, zu dem sich Humboldt auch an anderen Stellen kritisch äußert.
    5. e |Editor| Leitzmann S. 139: eine.
    6. f |Editor| De re rustica, Buch 1: De agri cultura II: "ut videamus quid pastores a Pergamide Maledove potis sint".