Wilhelm von Humboldt an August Wilhelm von Schlegel, 21.06.1823

[a] Ottmachau, den 21. Junius, 1823.

Ich erhielt E. Hochwohlgebornen gütige Zeilen vom 19. v. M. (die aber wohl später abgegangen seyn müssen) so kurz vor meiner Abreise hierher, daß es mir unmöglich war, sie noch von Berlin aus zu beantworten. Jetzt ist es mir um so lieber, die Antwort verschoben zu haben, da ich Ihnen sagen kann, daß ich die ersten 10. Gesänge des Gita gelesen habe. Bemerkungen, die Sie interessiren könnten, werden Sie von mir, und am wenigsten nach der Lesung des bloßen Abdrucks schon selbst nicht erwarten. Aber danken thue ich Ihnen recht herzlich für die große Freude, die mir das Lesen schon dieses Theils des Gedichts gewährt hat. Es ist mir in solchen Dingen eine gewisse Kindlichkeit geblieben, und ich kann nicht abläugnen, daß mich während dieses Lesens ein paarmal das Gefühl einer wahren Dankbarkeit gegen das Schicksal  überrascht hat, das mir vergönnt hat, diese Dichtung so gut, wie es mir nun jetzt eben damit geht, in der Ursprache zu vernehmen. Es ist mir, als würde mir etwas recht Wesentliches gefehlt haben , wenn ich, ohne das, hätte die Erde verlassen müssen. Man kann nicht sagen, daß man gerade dadurch neue Wahrheiten entdeckt. Der unbeschreiblich fesselnde Reiz liegt nicht einmal in der Bestätigung längst erkannter. Aber man wird von einem so wundervollen Gefühle alterthümlicher, großartiger und tiefsinniger Menschheit ergriffen, daß man wie in  Einem Punkt die geistige Entwickelung aller Menschengeschlechter und ihre Verwandtschaft mit dem Reiche alles Unsichtbaren zu empfinden glaubt. Die Sprache erscheint ganz anders in diesen Ueberbleibseln der ältesten Zeit. Der Gedanke scheint inniger mit den Worten verschmolzen, und in dem Laute, der Bewegung dieser, ihren Anklängen an verwandte Begriffe u. Bilder fühlt man immer mehr, als den einzelnen Gedanken, ja selbst als ein Individuum, wirklich das geistige Walten eines ganzen Zeitalters. Nichts was ich bisher im Sanskrit gelesen, hat mir einen solchen Eindruck hinterlassen, ich begreife indeß, daß wer das Stück nur in der Uebersetzung, und sey es auch die beste, liest, das gar nicht empfinden kann. Die Uebersetzung eines solchen Werks gleicht wirklich der Beschreibung eines Gemäldes. Farben u. Licht fehlen. Ich werde gewiß, wenn ich mit dem Ueberrest des Gedichts fertig bin, es oft wiederlesen, wie ich mich nicht habe enthalten können, schon mit den ersten Gesängen zu thun. Die ersten drei Gesänge las ich ohne Wilkins Uebersetzung, die ich erst später erhielt, aber nun hier habe. Grammatische Schwierigkeiten bietet dies Gedicht vielleicht weniger dar, als Alles, was ich bisher versucht habe. Die Construction ist von der höchsten Einfachheit. Indeß bin ich überzeugt, daß Ihre Bearbeitung schon sehr viele Schwierigkeiten weggenommen, u. habe die Leichtigkeit, mit der man, ohne durch Fehler aufgehalten zu werden, fortliest, dankbar empfunden. Ich habe auch die geringe Anzahl der Druckfehler bewundert. Es ist mir keiner, außer den angeführten, aufgestoßen. Zwar ist mir lect. 4. sl. 1. v. 2. {ikṣvakave} mit der kurzen zweiten Silbe aufgefallen, da ich immer sonst {ikṣvāku} finde. Allein es giebt doch wohl zwei Formen, oder hier einen mir unbekannten, den Vocal verlängernden Grund. Die Lettern haben mir erst jetzt, wo ich sie zusammen sehe, ganz so gefallen, wie sie es verdienen. Ich räume ihnen nun durchaus den Vorzug vor denen von Wilkins ein. Nur ein Paar wünschte ich anders. So das {dra}, das man zu leicht mit {dga} (dg) verwechslen kann, nicht zwar wenn sie bei einander stehen, aber wenn man jenes allein sieht. So auch scheint mir Wilkins κτν deutlicher. In Ihrem Zuge kann man einen Augenblick anstehen, ob das κ oder τ der erste Buchstabe seyn sollen. Dagegen sind alle andren Züge so deutlich u. bestimmt unterschieden, u. so zierlich gewandt, auch in so richtige Entfernung gebracht, daß die Leichtigkeit des Lesens dadurch ungemein gewinnt. Wenn die Asiatische Gesellschaft in Paris einmal Lettern gießen läßt, thäte sie sehr gut, ganz die Ihrigen zu nehmen. – Für die Abdrücke meiner Abhandlung sage ich Ihnen meinen herzlichsten Dank. Ich bitte Sie aber sehr, meinetwegen ja nicht mit dem Druck des folgenden Heftes zu eilen. Mein Aufsatz ist so wichtig nicht, daß nicht recht füglich die Fortsetzung noch ausbleiben könnte, und ich bin gar nicht sehr überhaupt auf das Drucken gerichtet. Es thut mir vielmehr immer leid, daß etwas nun so fest und starr da steht, daß sich nichts mehr daran ändern läßt. – E. Hochwohlgebornen Reise nach London halte ich für das Sanskritstudium von großer Wichtigkeit. Sie werden dort den Eifer anzuregen, u. guten Rath zu ertheilen wissen. Aeußerst wichtig wäre ein raisonnirendes Verzeichniß der Sanskrit Handschriften in der Sammlung  des Ostindischen Hauses, wo möglich so ausführlich gemacht, als CasiriBeschreibung der Arabischen des Escurials. So Vieles auch einzeln darüber in den Asiatischen Untersuchungen u. sonst vorkommt, so übersieht man doch bei weitem noch nicht genug den ganzen Umfang der Indischen Literatur, u. trostlos ist es gar, wenn man nichts als Namen u. Titel hört. So möchte ich so gern wissen, ob es wirklich eine höhere, wissenschaftliche oder wenn Sie wollen, richtiger beredte Prosa, der Griechischen ähnlich, in der Sprache giebt, u. wenn eine solche vorhanden ist, eine Probe davon sehen. Gesetzbücher, Grammatiken, Commentare, streng wissenschaftliche Werke rechne ich natürlich nicht dahin. Die Philosophen scheinen großentheils zugleich metrisch zu seyn. Ob es aber prosaisch philosophische Werke giebt? ob historische, die man gemeinhin abläugnet, von denen ich aber doch Einiges erwähnt gefunden habe? ob sonst prosaische Werke, in denen die Form, der Stil, wenigstens zugleich für sich eine Rolle spielt? möchte ich wissen. Es gab doch auch in Indien Republiken. Sollte die Beredsamkeit in einer solchen Sprache gar keinen Platz gefunden haben? Es ist wunderbar, daß man, soviel auch über gewisse Gegenstände geschrieben ist, doch nicht Aufschlüsse über manche höchst wichtige u. ganz einfache Fragen erhält. So habe ich aus Remusats ganzer Schrift über die Chinesische Literatur nicht herausbringen können, ob es in derselben große Epische Gedichte giebt, oder nicht? Unendlich gern hätte ich aus London den Amara Cosha, den zweiten Theil des Ramayana (beide sehr schwer zu finden) u. das Gesetzbuch des Manus. Sie erzeigten mir eine große Gefälligkeit, wenn Sie mir sie verschaffen könnten.[b] Die Auslagen erstatte ich sogleich. – Ritters liegende Bildsäulen sind freilich schrecklich. Ich habe die Vorhalle nur zum Theil u. nur flüchtig gelesen, bin aber selbst ein wenig an dem Buche Schuld. Er fing es 1816. in Frankfurt zu schreiben an, u. theilte mir den Anfang mit. Ich war damals noch weniger bewandert, als jetzt, in diesen Dingen, einige Ideen frappirten mich, u. da man ihn hätte anhalten sollen, ermunterte ich ihn. Er war wirklich selbst augenblicklich in seinem begeisterten Tone, wie Sie es mit Recht nennen, zweifelhaft u. merkte selbst Unrath. Jetzt glaube ich, sieht er es noch mehr ein. Da er so viel wahres Verdienst hat, glaube ich, thut man am besten, die Schrift ganz ungedruckt anzusehen, u. sich nur an das zu halten, was er davon wieder einmal vorbringen könnte. Sprachkunde schien er mir immer nicht viel zu besitzen. Allein man sollte sich dann an bewährte Uebersetzungen halten, da man allerdings nicht Alles wissen kann. – Prichard hat seine Widder-Geißelung[c] wohl nicht einmal aus dem Original gewonnen[d], sondern aus Vallas lat. Uebersetzung, wo, wie ich mich, da mich ehemals die Stelle auch in Verlegenheit setzte, erinnere, derselbe Irrthum ist.[e]  Riemer – das einzige Griechische Wörterbuch, das ich hier habe, weil es zufällig hier liegen geblieben ist, – sieht κόπτεσθαι  mit dem Accusativ für die gewöhnliche Construction an. Aber ich müßte mich sehr irren, wenn der spätere mehr logisch gebildete Graecismus dies erlaubt hätte. Man sagte, wenn ich mich recht erinnere, das Wort mit dem Dativ, was auch natürlich ist: sich für einen an die Brust schlagen. Der Accusativ bei Herodot ist eine Anomalie. Da ich leider wenig von dem lese, was seit den letzten Jahren erschienen ist, so ist mir der Unfug, von dem Sie reden, weniger bekannt. Es ist aber kaum der Mühe werth, ihn großer Aufmerksamkeit zu würdigen, u. man thut wohl am besten, nur, wo es die Gelegenheit giebt, solche Verstoße zu rügen. – Wegen des Arabischen haben Ew. Hochwohlgebornen eigentlich wohl recht, daß es nicht gut ist, sich zu sehr zu verbreiten. Aber mein Weg führt mich einmal dahin, mich mit der Sprache überhaupt zu beschäftigen, u. da darf man eigentlich keinen der Hauptstämme vernachlässigen. Eine natürliche Folge davon aber ist freilich, daß man in jeder einzelnen Sprache gegen andre zurücksteht. Nur mache ich doch sorgfältige Unterschiede. Es ist gar nicht meine Absicht, eigentlich in die Arabische Literatur einzugehen, ich suche nur insofern zu verstehen, als man ohne das doch keinen anschaulichen Begriff von der Grammatik haben kann. Diese ist aber im Arabischen sehr merkwürdig, wenn man auch nur die fast gänzliche Gleichgültigkeit der Vocale, wenigstens bei den Wurzeln, den bestimmten Unterschied zwischen den Wurzelbuchstaben u. einigen wenigen, ausschließend zu den Beugungen gebrauchten, u. das Einschieben von Beugungslauten zwischen die Wurzelbuchstaben nimmt. In ihrem Wesentlichen ist die Arabische Grammatik überaus leicht, viele der kleinlichen Mühseligkeiten, mit denen man zu kämpfen hat, gehören nur den Grammatikern an. Für das Persische muß es aber doch anziehend seyn, beides Arabisch u. Sanskrit zu kennen. Es ist gewissermaßen für die Orientalischen Sprachen, was das Englische in den Abendländischen. – Nun leben Sie herzlich wohl, u. vollenden Sie Ihre Reise glücklich. Erhalten Sie mir Ihr gütiges u. wohlwollendes Andenken, u. wenn Sie mich in den nächsten beiden Monaten mit einem Briefe erfreuen wollen, so lassen Sie ihn doch, ungeachtet meiner Abwesenheit nach Berlin gehen. Ich bekomme ihn auf diese Weise sichrer.

Mit der lebhaftesten u. hochachtungsvollsten Ergebenheit der Ihrige
H.

Fußnoten

    1. a |Editor| Anmerkung Schlegels oben links: Beantwortet d. 7ten Jul.
    2. b |Editor| Der Amarakosha befand sich in Humboldts nachgelassener Bibliothek (s. Schwarz 1993, S. 35 Nr. 236), während der zweite Band des Ramayana der Ausgabe von Carey und Marshman fehlt (s. Schwarz 1993, S. 36 Nr. 244); Manus Gesetzbuch findet sich in der Ausgabe Haughtons von 1825 (Schwarz 1993, S. 36 Nr. 245).
    3. c |Editor| Siehe James Cowles Prichard: An Analysis of the Egyptian Mythology (London, Cornhill: John and Arthur Arch 1819) S. 367.
    4. d |Editor| Leitzmann S. 162: genommen.
    5. e |Editor| Siehe Lorenzo Valla: Herodoti Halicarnassei Historiarum libri IX, IX musarum nominibus inscripsi … (Frankfurt/M.: Apud Claud. Marnium, & hered. Jo. Aubrii 1608) S. 106: "arietem verberant".