Wilhelm von Humboldt an Franz Bopp, 26.09.1826

Ihr anliegend zurückerfolgender Aufsatz, theuerster Freund, hat mich, seitdem ich ihn empfieng, unablässig beschäftigt. Er ist unstreitig das Wichtigste, was Sie bis jetzt über Sprachvergleichung geschrieben haben, und was man überhaupt über dieselbe zu untersuchen vermag. Es ist kaum möglich auf factisch zergliederndem Wege dem Wesen der Sprachentstehung näher zu kommen. Der ganze Aufsatz ist voll der scharfsinnigsten Bemerkungen, der überraschendsten Zusammenstellungen, und spricht auf jeder Seite von einer vollendeten Kenntniß des ganzen Indisch-Germanischen Sprachstammes. Ich traue mir, ohne alle verstellte Bescheidenheit, weder genug Kenntniß des Sanskrits, noch der Germanischen Sprachen zu, eine solche Arbeit eigentlich beurtheilen zu können. Ich will Ihnen indeß ganz offen, und so kurz ich kann sagen, was bei mir doch noch die volle Ueberzeugung hemmt. Vielleicht kann es Ihnen Gelegenheit geben, einigen Einwendungen im Voraus zu begegnen, oder einigen Stellen mehr Ausführung und Deutlichkeit zu geben.

Die Sätze, die Sie beweisen wollen, sind, wenn ich Ihre Abhandlung recht verstehe, folgende:

1., das Indische guna ist eine durch den Einfluß der Endungen entstehende euphonische Umänderung des Wurzelvocals.

2., der Deutsche Ablaut ist, ob er sich gleich vom Indischen guna durch die, wenn auch nicht ursprüngliche, Bedeutsamkeit, und den größeren Umfang des Vocalwechsels unterscheidet, demselben doch darin gleich, daß er dieselbe Entstehung hat.

3., es ist daher unrichtig, daß Grimm in dem Ablaut eine mit dem Alterthum und der ganzen Einrichtung unsrer Sprache tief verbundene Eigenschaft sieht, und ihn sogar der Reduplication vorangehen läßt; der Ablaut gehört vielmehr in die Periode der Sprache, wo die Beugungsendungen schon anfangen, Herrschaft über den nicht mehr in seiner ganzen Bedeutung aufgefaßten Wurzelvocal zu gewinnen.

Da der Ablaut das stärkste und scheinbar unwiderleglichste Beweis ursprünglicher Flexion war, so entscheidet diese Untersuchung auch über diese Grundfrage der Sprachbildung.

Soll man nun diese Theorie prüfen, so kommt es auf die doppelte Frage an:

1., ist das Indische guna wirklich der von Ihnen angegebenen Ursache zuzuschreiben?

2., ist nicht, wenn dies auch der Fall wäre, der deutsche Ablaut von demselben wesentlich verschieden?

Daß Grimm darin Unrecht hat, den Ablaut und das Guna immer in Eine Classe zu stellen, indem er doch jenen ganz in der grammatischen Bedeutsamkeit walten läßt, ist offenbar, u. rührt wohl von mangelhafter Kenntniß des Indischen her.

Sie suchen den Einfluß der Endungen auf das guna vorzüglich und man muß gestehen, allein aus dem Unterschiede herzuleiten, welchen die 2. Conjugation im Annehmen und Nichtannehmen des guna macht. Wäre dies aber wohl hinreichend? Muß  eine Erklärung des guna nicht auf alle Fälle passen, wo es eintritt? Nun kann die Ihrige nicht bei der 1. Conjugation angewendet werden. Denn die Endungen der 1. und 6. Classe sind dieselben, u. jene fordert immer, diese verwirft ganz das guna. Bei der Ableitung der nomina sagen Sie selbst, daß die Natur der Endungen ganz unwirksam ist. Sie führen zwar Gründe an, dies zu erklären, allein sie erscheinen mir nicht genügend. Es ließe sich wohl begreifen, daß Nomina bald aus reinen, bald aus verstärkten Verbalformen entstünden; dann müßte aber die Abänderung des Vocals nicht von der Natur des Suffixes abhängen. Nun ist dies aber offenbar der Fall, u. mithin müßte auch, dünkt mich, wenn es auf die Kürze und das Gewicht der Endung ankäme, dies Gesetz gleichfalls bei der Ableitung gelten. Endlich aber sehe ich auch bei der 2. Conjugation noch Zweifel zu heben. Denn auf der einen Seite giebt es in den ersten vier Zeiten Endungen ohne guna, die vollkommen gleich leicht, als die mit guna sind. Erwägen Sie selbst {tha} der 2. plur praes, das {hi} der 2. sing. imper. das sich vollkommen mit {mi} vergleicht, u. vor allen Dingen das {i} der 1. sing. praet. I. âtman.   Auf der andern Seite haben gerade die langen und unbehülflichen Endungen der 1. Imperat. alle ohne Ausnahme guna. Waltete hier das von Ihnen behauptete euphonische Gesetz vor, wie ließen sich diese Ungleichheiten erklären?

Auf diese Einwendungen, liebster Freund, müssen Sie Sich gefaßt machen, denn ich gestehe, daß ich mir die daraus entstehenden Zweifel nicht zu lösen weiß. Ich habe oft darüber nachgedacht, woher gerade die bekannten Verbalbeugungen guna haben, aber nie etwas Genügendes herausgebracht, und ich gestehe, daß mir, wie ich eben sagte, auch Ihre Erklärung nicht zu passen, oder wenigstens nicht auszureichen scheint. Das guna grammatisch zu nehmen ist kaum möglich, da man gar keinen grammatischen Grund eines theils gar nicht, theils so wunderbar charakteristischen Vocalwechsels einsieht. Wäre er indeß bloß phonetisch, so müßte   guna überall erscheinen, wo das gleiche Lautverhältniß eintritt, was doch nicht der Fall ist. So ist mir oft aufgefallen, warum in der Declination kein guna erscheint? Die Anfügung einer Endung könnte doch auch da auf den Stamm zurückwirken. Damit scheint zusammenzuhängen, daß auch die taddhita Suffixe keine conversion haben, dagegen die Kridanta und Unadi häufig, weil sie Wurzeln zu Primitiven haben. Das guna scheint an das Verbum gekettet, u. da alle Substantiva, die durch Unadi u. Kridanta suffixe entstehen, von Wurzeln herkommen u. insofern Verbal sind, erfahren sie auch das guna, aber die aus andern Substantiven  oder Adjectiven gebildeten nehmen nur Wriddhi an, weil sie nicht unmittelbar von Wurzeln abstammen, sondern von Wörtern, die, selbst schon von Verben abgeleitet, schon guna erfahren haben können. Insofern scheint also guna doch dem Verbum ausschließlich eigenthümlich u. insofern grammatisch. Es ließe sich indeß freilich sehr gut denken, wenn nur die obigen Zweifel gelöst wären, daß dasselbe wirklich eine phonetische aber nur innerhalb des Verbums sich ereignende Erscheinung wäre.

Ich habe mich gewundert, daß Sie den Umstand, daß der End Consonant einfach seyn muß, bloß bei der Verwandlung des a in e erwähnt haben. Sie hätten auch damit Ihre Theorie des guna bestätigen können, da der doppelte Consonant den Stamm Vocal gegen den Einfluß der Endsylben auch da schützt. Es erklärt sich auch (wenn ich in Ihrem System reden soll) daraus recht gut, warum im Griechischen ein End α zwar im Perf. Med. was immer einen einfachen Consonanten vor der Beugung hat, nicht aber im Aor. 1. act. in o verwandelt, da der Aorist meistentheils einen doppelten Consonanten erhält. Wo dies nicht ist, tritt eine andre Conjugationsart ein. Ich weiß aber nicht, ob man dies allgemeine Gesetz des guna nicht auch so erklären kann, daß, so wie kein von Natur langer Vocal in der Mitte guna zuläßt, dies auch kein durch position lang werdender thut.

Noch muß ich beim guna eine Kleinigkeit erwähnen, die aber doch der Deutlichkeit schaden könnte. Wo Sie von der Diphthongirung des Guna sprechen, thäten Sie wohl gut, ausdrücklich daran zu erinnern, daß man Grund hat die Sanskritischen Laute ê u. ô, wenn wir sie auch jetzt wie lange Vocale schreiben, für Diphthongen zu halten. In der Abhandlung thun Sie es, allein anfangs kann es weniger kundige Leser irre führen. Selbst irre leiten kann, wie es mir scheint, die Vergleichung dieser beiden Laute mit den Französischen ai und au. Sie sind, so viel ich einsehen kann, nur orthographisch diphthonge, an sich aber einfache Laute, wofür ich auch unsre ä, ö, ü halte.

λείπω, φεύγω, als durch guna entstanden anzusehen, war mir neu, und will mir noch nicht recht ein. Doch möchte ich es nicht bestreiten. Viel für sich hat es offenbar.

Komme ich nun zur zweiten Frage und zum Ablaut, so ist das Wichtigste zuerst zu sehen, ob die Anwendung Ihres Gesetzes des Einflusses der Endungen auch solche Zweifel läßt, als mir bei der Erklärung des guna bleiben? Diese Prüfung anzustellen, aber bin ich nicht stark genug in der Germanischen Conjugation. Davon abgesehen ist nicht zu läugnen, daß der Ablaut bei weitem mehr grammatische Bedeutsamkeit besitzt, als das guna, da er einen bestimmten Unterschied zwischen dem Praesens u. Perfectum bewirkt, den Imperativ aus dem Spiel läßt, dagegen oft auf das Participium einwirkt. Sollte dies, was so durchaus wie ein organisches Gesetz aussieht, nun zufällig, u. einem Einfluß von Endungen zuzuschreiben seyn? Es ist sehr wahr, daß die reinen Formen des Plurals des Praet. für Ihre Meinung sprechen. Allein die ganze Erscheinung des Ablauts führt doch eine Bedeutsamkeit mit sich, deren Gefühl sich unwillkürlich aufdrängt, u. welche den Ablaut in eine ganz andere Klasse, als das guna, setzt. Das lateinische ago, egi macht denselben Eindruck auf mich, u. es wäre freilich sonderbar, wenn die Germanische u. die Lateinische Sprache in einem so wichtigen Punkt etwas besäßen, was der Griechischen u. Indischen fehlte. Denn der von Grimm aus dem Griechischen angeführte Vocalwechsel hat auch nicht den grammatischen Charakter des Ablauts.

Absichtlich grammatisch ist gewiß kein Vocalwechsel. Aller in Ableitung u. Conjugation rührt, dünkt mich, immer entweder von der Natur der Buchstaben od. ihrem Einfluß auf einander, oder vom Accent her. In mehreren Sprachen, namentlich im Ungrischen verlangen sich od. bilden sich starke u. schwache Vocale regelmäßig an. Allein vorzüglich wichtig ist der Accent, u. es ist offenbar, daß er oft die Beschaffenheit der ihm unterworfenen Laute verändert. So erkläre ich condemno u. damno. Daß ein Wort seine Vocalgeltung abändert, wenn es eine Sylbe mehr erhält, oder eine verliert, ist sehr begreiflich u. durch viele Beispiele zu erweisen. So meine ich nun, läßt sich vielleicht die Sache auf eine Weise erklären, in der sich Ihre Meinung mit der Grimmischen, die auch die bisher angenommene war, vereinigt. Aus einem wirklichen grammatischen Instinct formten die Germanischen Nationen das Praeteritum anders, als das Praesens. Sie gaben ihm bald durch Einsylbigkeit, bald bloß durch den Accent mehr Nachdruck. Dies erscheint um so weniger unnatürlich, als der minder gebildete Mensch gewiß weit eher geneigt ist, zwei verschiedene Zustände eines Begriffs, wie Praesens u. Praeteritum, als zwei ganz verschiedene Dinge anzusehen, als beide aus einem Gemeinsamen abzuleiten. Bei dieser Abänderung der Form des Worts behaupteten nun die von Ihnen entwickelten phonetischen Gesetze ihr Recht. So konnte der Vocalwechsel aus der Einsylbigkeit oder der schwachen Endsylbe, aber die Einsylbigkeit oder der starke Accent der ersten Sylbe aus dem grammatischen Gefühl entspringen. Auf diese Weise zeigte sich nun eine Verschiedenheit der Vocale des Praesens, Praeteritum u. Participium. Denn um die Erscheinung vollständig vor sich zu haben, muß man gleich auch dies hinzunehmen. Wurde aber einmal dieser vom Ohr bemerkt, so wurde er fortgebildet. Denn aus der Analogie der bloßen Klangfülle muß gewiß in allen Sprachen Vieles erklärt werden.

Auf diese Weise könnte man sich vielleicht die Sache vorstellen. Doch möchte ich nicht gerade darauf bestehen, daß dies die richtige Erklärungsart sey. Nur davon, gestehe ich, kann ich, ohne andere überzeugendere Gründe für jetzt nicht abgehen, daß der Ablaut im Deutschen u. Lateinischen eine wirklich ursprünglich grammatische Erscheinung ist, und daß er daher ganz u. gar nicht mit dem guna  verglichen werden kann, da bei dem guna, wie man es nehmen mag, gar keine grammatische Absicht zu erkennen ist. Eher indeß möchte ich zugeben, daß auch das guna grammatisch ist oder war, ohne daß nur einer es recht erkenne, als das Grammatische im Ablaut abläugnen.

Ich fühle selbst, daß es sonderbar ist, daß dem Deutschen u. Lateinischen etwas so tief in das Wesen der Sprache eingreifendes eigen seyn soll, was dem Sanskrit fehlt, u. daß es zu den von mir selbst oft entwickelten Ideen mehr paßt, daß der Ablaut zuerst eine absichtlos, phonetische Vocalumänderung war, und dann grammatisch gebraucht wurde. Aber der ausschließlich grammatische Charakter des Deutschen Ablauts steht, wie eine Thatsache vor mir, u. wenn man auch annehmen wollte, daß die Germanischen Stämme ursprünglich das guna, wie es im Indischen ist, besitzen, es aber zu dieser grammatischen Bezeichnung verwendeten, u. sich hierin von den zurückbleibenden Stammverwandten unterschieden; so weiß ich nicht, ob es nicht noch schwerer ist, zu begreifen, wie ein Volk, eine auf eine andere Weise in seiner Sprache existirende Lautbeschaffenheit plötzlich so umbeugt, als daß es ursprünglich eine eigenthümliche aufnimmt.

Dies, liebster Freund, ist es, was ich Ihnen jetzt über Ihren Aufsatz zu sagen weiß. Ich werde ihn gewiß, so wie er gedruckt ist, von neuem studieren, u. dann vielleicht eine andere u. richtigere Ansicht gewinnen. Es schien mir aber doch gut, Ihnen offen auch meine jetzige zu sagen.

Ich füge diesem Briefe den Entwurf eines Briefes[a] über die Schrift des Oberlehrers Schmidt an denselben hinzu. Ich wünschte, daß Sie ihn, ehe ich ihn abschicke, lesen möchten, um so mehr, als Ihnen sein Ausdruck eines momentanen Merkmals nicht zu misfallen schien, u. ich diesen gerade besonders geprüft habe. Ich bin weit entfernt, Ihnen zuzumuthen, eigentlich auch einmal in diese unbedeutende Streitfrage einzugehen, aber wenn Ihnen etwas in meinem Raisonnement als unrichtig, oder partheiisch auffiele, würden Sie mich sehr verbinden, mir es anzuzeigen.

Sehr muß ich Sie um Entschuldigung bitten, Ihren Aufsatz so lange behalten zu haben. Allein die Rückkunft meiner Frau aus dem Bade, das ihr Gottlob! eine recht heilsame Wirkung gemacht hat, ist mir, als eine aufhaltende Störung zwischen die Beschäftigung damit gekommen, u. so muß ich um Ihre gütige und freundschaftliche Nachsicht bitten.

Mit der herzlichsten und hochachtungsvollsten Anhänglichkeit
der Ihrige,
Humboldt.
Tegel, den 26. September, 1826.

Fußnoten

    1. a |Editor| Siehe das Briefkonzept vom 28. Oktober 1826 (Coll. ling. fol. 55, Mappe 4, Bl. 60–69, Krakau). Humboldts Brief an Maximilian Schmidt wurde erst postum unter dem Titel Ueber den Infinitiv in der Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung 2, 1853, S. 241–251, veröffentlicht.