Wilhelm von Humboldt an Franz Bopp, 23.07.1829

Ich danke Ihnen herzlich, theurer Freund, für Ihr gütiges Schreiben vom 18. Julius und habe mit demselben Bogen 19. nur die erste (Praes. u. Potent. nicht, wie Sie schreiben, letzte) Hälfte der Conjugationstabelle bekommen. Sie haben mir aber nicht Bogen 18. u. die Tabelle der Pronomina geschickt, um die ich noch bitten muß.

Mit Ihren Regeln 302. u. 308. bin ich vollkommen im Ganzen einverstanden. Die Eintheilung der Personalflexionen in auctas u. puras billige ich gänzlich. Der Ausdruck bezeichnet die Sache, der Unterschied dieser flexionen |sic| ist offenbar u. liegt auch schon im bisherigen grammatischen System der Sprache. Man kann hiergegen die Einwendungen nicht machen, die ich mir gegen die starken u. schwachen Casus erlaubte. Dagegen gestehe ich Ihnen, daß ich nicht billigen kann, daß Sie diesen Unterschied positiv (quae – nititur) aus den Endungen ableiten. Das ist doch keine Thatsache, sondern eine Erklärungsart, eine Muthmaßung, an der selbst ich noch zweifle, u. viele andre gewiß noch mehr. Dies hätte ich in einer Anmerkung gesagt, oder mit einem Zwischensatz, nach meiner Meinung, gemildert gewünscht. Nur auf diese Weise, glaube ich, darf man Muthmaßungen in ein Lehrbuch aufnehmen. Vermißt habe ich auch den Eingang u. nr. 1. der R. 308. der D. Gr. Vielleicht steht das im Bogen 18. Aber dann war doch die Zusammenstellung in der D. Gr. übersichtlicher u. zusammenhängender. nr. 1. kann allerdings entbehrt werden. Ich sehe aber daß ich, ohne den Anfang von n. 300.a. u. vielleicht frühere Regeln zu besitzen, nicht urtheilen kann. Allein in r. 300.b. sind Sie gar tief in Dinge eingegangen, die mir auch nur in ein raisonnement über Grammatik, nicht in eine Grammatik zu gehören scheinen. Ich kann es nicht läugnen, daß mir in dieser ganzen Lehre der leichten u. schweren Endungen noch sehr viel Willkühr zu liegen scheint. So kann ich dem r. 313. von den Ausnahmen des Imperativs gegebenen Grunde gar nicht beipflichten. Er ist sinnreich, aber überzeugt nicht. Wir können doch nur das Historische suchen, nur schweigen, wo nichts Historisches da ist, oder denn vermuthen. Ich möchte gar nicht dafür stehen, daß es nicht auch Praesentia  in ai gegeben haben könnte, das Tempus let läßt mich sogar an solche glauben. Die 1. Imper. ist endlich gewiß nicht ursprünglich u. kaum je ein von Einem an sich selbst gerichteter Befehl. Es ist mehr Ueberlegung, Wunsch eig. Conjunctiv, nicht Imperativ. – Ich muß Ew. Wohlgeboren tausendmal um Verzeihung bitten, Ihnen meine Bemerkungen so flüchtig mitzutheilen.

Von Dr. Rosen habe ich einen Brief vom 10. Julius.[a] Er wollte bald nachher nach Detmold zu seinem Vater auf einige Zeit gehen. Vielleicht kommt er im Herbste hierher.

Ich reise zwischen dem 5. u. 7. Aug. ab.

Leben Sie herzlich wohl. Mit der hochachtungsvollsten Freundschaft
der Ihrige,
Humboldt
Tegel, den 23. Julius, 1829.


 |Schreiber|
An
Herrn Professor Bopp,
Wohlgebohren
in
Berlin .

Fußnoten

    1. a |Editor| Dieser Brief ist anscheinend nicht erhalten.