Wilhelm von Humboldt an Franz Bopp, 23.05.1830
                    |1*| Ich habe Ihnen, theuerster Freund, für zwei sehr gütige Briefe, und
                    für Ihre Abhandlung und Ihr
                        Wörterbuch zu danken, und thue dieß mit der herzlichsten Freude.
                        Die Abhandlung habe ich auf’s neue mit großem
                    Vergnügen gelesen. Sie ist in jeder Rücksicht überaus wichtig, und voll der
                    scharfsinnigsten Bemerkungen und Herleitungen. Gegen eine einzige Stelle würde
                    ich mir, wenn ich das Manuscript mit Muße hätte sehen können, eine Einwendung
                    erlaubt haben. Sie sagen, daß 
                        geras und keras kein t in der Flexion habe, und behandeln diese
                    Wörter, als wäre nie ein t darin gewesen. Dieß scheint
                    mir nicht richtig. Sie haben ebensowohl als die anderen ursprünglich im Genitiv
                    u. s. w. ein t gehabt, nur ist die Jonische Aussprache mit Weglassung des t in
                        geras durchaus, in
                        
                        keras meistentheils allgemein
                    geworden. 
                        Buttmann, dem Sie gefolgt zu sein
                    scheinen, |2*| spricht dem 
                        keras zu unbedingt sein t  ab. 
                        Kerata kommt, ob ich gleich jetzt
                    keinen Vers anzugeben wüßte, sicher auch in Wolff’s Ausgaben 
                        immer mehr <|
Humboldt| im Homer> |
Schreiber| vor. 
                        Passow bemerkt es ausdrücklich in seinem Wörterbuch. Allein auch 
                        Buttmann spricht nur von einer Jonischen Weglassung, nicht von einem ursprünglichen
                    Mangel des t.
Ich bin so frei, Ihnen anliegend, liebster Freund, 5 Exemplare meiner Abhandlung für Sie, Herrn Schmidt[a], Herrn Graff, und Herrn Becker[b], den Sie jawohl bisweilen sehen, und dem ich zwei für sich und seinen Vater in Offenbach bestimme, beizuschließen. Ich habe ein Exemplar an Remusat geschickt, und vorzubeugen gesucht, daß der unglückliche Neumann nicht wieder wegen des chinesischen Theils meiner Abhandlung unhöflich behandelt werde. Was man ihn |sic| im ersten Zeitungsartikel vorgeworfen hat, halte ich wohl für gegründet. Neumann setzte ein zu großes Vertrauen in zu schnell erworbene Kenntnisse. Der Einsicht Schotts und Plaths in das |3*| Chinesische traue ich durchaus nicht und möchte nicht durch sie vertheidigt werden.
Ich verreise am 1ten Junius c. und danke Ihnen nochmals für die Güte, am 10ten Junius in der Academie für mich lesen zu wollen. Ich hoffe Sie im August recht gesund und wohl wieder zu sehen.
Mit der herzlichsten Freundschaft |Humboldt
|
An Herrn Professor Bopp.
Wohlgebohren
in
Berlin.
|4*|
An
Herrn Professor Bopp.
Wohlgebohren
in
Berlin.
Fußnoten
- a |Editor| Friedrich Wilhelm Valentin Schmidt (1787–1831), Literaturforscher und Kustos der Königlichen Bibliothek zu Berlin (?).
 - b |Editor| Ferdinand Wilhelm Becker, Sohn des Offenbacher Sprachforschers Karl Ferdinand Becker.
 

