Wilhelm von Humboldt an Franz Bopp, 22.04.1834
Ich bin so frei, liebster Freund, Ihnen die in diesen letzten Wochen wieder fertig gewordenen Bogen meiner Schrift, Ee bis Ii, anliegend zu übersenden.
Sie haben gewiß auch Lepsius Paläographie u. s. w. erhalten, vielleicht, da sie hier gedruckt ist, schon vorher gekannt. Ich habe sie ganz durchgelesen und läugne nicht, daß Sie meine Aufmerksamkeit sehr lebhaft angespannt hat. Es ist darin eine unverkennbar neue Ansicht eröffnet. In den einzelnen Erörterungen herrscht ein glücklicher Scharfsinn, und das ganze durch die Schrift durchgehende Raisonnement zeugt von höchst beifallswürdiger Methode. Von allen diesen Seiten zusammengenommen kann man der Schrift eine vorzügliche Wichtigkeit nicht absprechen, und es liegt, wie mich dünkt, mehr darin, als ich dem Verfasser zugetraut hätte. Ich wünschte aber außerordentlich, wenn auch nur kurz, Ihr Urtheil über die Schrift zu erfahren. Ich gestehe, daß mir, sowohl in den ersten Gründen derselben, als in den einzelnen Ausführungen, große Zweifel übrig geblieben sind. So nimmt z. B. der Verfasser an, daß das Spätere in der Schrift auch das Spätere in der Sprache war; i u. u sollen sich später und sogar nicht aus dunkel verwirrtem Laut, sondern aus a entwickelt haben. Mir ist sehr begreiflich, daß man in der Schrift manches Anfangs unangedeutet ließ, dem Leser mehr einen Anstoß gab den Laut zu ergänzen als ihn ihm vormalte. Darum brauchte aber derselbe Gang nicht in der Sprache zu liegen. Die Annahme, daß das Sanskrit ehemals von der entgegengesetzten Seite geschrieben wurde, scheint mir zwar scharfsinnig begründet, und ich möchte ihr am ersten beitreten. Das Fundament ist aber doch nur die Wendung der Oeffnung der Buchstaben nach der Linken hin, und nun müßte also zuerst deutlich bewiesen werden, daß alle, Ausnahmen bildende Buchstaben wirklich späteren Ursprungs sind. Man entgeht sonst schwer einem irre führenden Zirkel im Beweise. Das über den Unterschied von ar als Guna des r Vokals vor Consonanten und des |Humboldt| ar |Schreiber|, als Auflösung dieses Lautes vor Vokalen gesagte, hat mir sinnreich und überzeugend zugleich geschienen. Dagegen kann ich die Behauptungen über das Anusvâra nicht theilen und noch weniger die ganze Theorie über die Zweisilbigkeit der Stämme. Es scheinen mir da die Conjugations Classen bei dem Verfasser wunderbar in die Wurzeln einzudringen. Auch nimmt er gar keine Rücksicht auf die Möglichkeit, einen consonant-artigen Laut so wie einen wirklichen Consonannten |sic| selbst an einen vorhergehenden Vokal anzuschließen. Ich bitte Sie aber um Verzeihung, Sie mit diesen Einzelheiten zu ermüden und empfehle mich auf das herzlichste Ihrer gütigen Freundschaft.
|Humboldt| Humboldt
|Schreiber| Tegel den 22t. April 1834.