Wilhelm von Humboldt an Christian Lassen, 16.05.1829
Ich kann Ew Wohlgebohren nicht lebhaft genug ausdrücken, welchen Gefallen nicht blos Sie mir erzeigt, sondern welchen wahren und großen Dienst Sie mir geleistet haben durch Ihren gütigen Brief vom 27.t Februar. c.[a] Denn die Sanskrit-Grammatiker mit ihrem Formelwesen sind mir noch verschlossene Schreine, und ich glaube, daß ich nie die Zeit gewinnen werde, mich in sie hineinzustudiren. Ich habe bewundert, wie vertraut Sie damit sein müssen, um so schnell alles über Ein Tempus im Panini Zerstreutes zusammenzufinden. Unter denen, die sich noch jetzt mit dem Sanskrit beschäftigen, sind Ew Wohlgebohren der einzige, der hierin tief eingegangen ist. Es wäre unendlich schade, wenn Sie diesen Vorzug nicht wirklich benutzten.
Da 
                        Colebrooke sich wohl nicht geirrt hat, so
                    wird sich das Tempus mit der Reduplication wohl bei
                    andren Grammatikern finden. 
                        Colebrooke nannte es bestimmt lot.  {loṭ}å; let. 
 {leṭ} [b] war mir aus den englischen Grammatiken wohl bekannt. Es giebt einen (vielleicht
                    mehrere) eignen Tractat über die Grammatik der 
                        Vedas. Wenn Ew Wohlgebohren nur einmal
                    diesen lesen und excerpiren könnten.
Obgleich das tempus let keine Reduplication hat, so sind die Formen desselben bei Panini mir doch von der größesten Wichtigkeit geworden.
Ich bin nämlich, seit vorigem Sommer, wo ich mich viel mit Betrachtung unsrer jetzigen Anordnung des Sanskrit Verbum beschäftigt habe, zu der Ueberzeugung gekommen, daß es ganz unrichtig ist (wenigstens einen andren Sinn als bei andren Sprachen hat) wenn man der Sanskrit-Conjugation 10 tempora und unter diesen 3 Praeterita beilegt, und wenn man das sogenannte Praet. 3. (Bopps vielförmiges, ein Name, der eigentlich von mir herstammt) für ein eignes Praeteritum hält, noch mehr wenn man es gar A rist |sic| nennt, und man glaubt, wie ein Griechisches[c], drei neben einander gebrauchte, in ihren Functionen eigenthümlich verschiedene Gattungen des Praeteritum zu besitzen, da das Praet. 3. höchstens so neben den andren steht, als der Aor. 2 neben dem Aor. 1. im Griechischen.
Meiner jetzigen Ansicht nach, ist das Praet. 3. nichts, als, wenn Sie mir den unedlen Ausdruck zu Gute halten, eine Art Polterkammer, in welcher die Grammatiker, von denen unsre Conjugationsanordnung herstammt, alle Formen zusammenwarfen, die sie außer den gewöhnlich dienenden, zwar selten, aber doch hier und da fanden, und die nur das mit einander gemein hatten, daß sie ein Augment und Vergangenheitsbedeutung an sich trugen. An sich waren diese Formen obsolet gewordene einer früheren Zeit.
Eine ganz ähnliche, nur ältere Polterkammer von Formen ohne Augment und wie ich glaube, mit Gegenwartsbedeutung, scheint mir das Tempus let. Es enthält aber blos Formen, die in den Schriften, aus welchen unsre Anordner excerpirten, nicht mehr vorkamen, sondern nur in den, von unsren Anordnern eigentlich ausgeschlossenen Vedas.
Irre ich mich nicht hierin, so sehen Sie, wie wichtig dies Tempus für meine Behauptung über das Praet. 3. ist.
Der kürzeste und directeste Beweis für meine Behauptung über das Praet. 3. ist mir aber die Thatsache, daß diese Formen so ungemein selten vorkommen.
Im ganzen Nalus finden sie sich nur von 5 Verben, nämlich von
| 
                             | 
                        8 mal, | 
                             | 
                        einmal, | 
| 
                             | 
                        einmal, | 
                             | 
                        einmal, | 
| 
                             | 
                        5 mal, | 
also überhaupt nur 16mal in einem so langen Gedicht. Ich glaube genau gezählt zu
                    haben. Hätte ich mich aber auch um das Doppelte geirrt, so wäre der Gebrauch
                    immer sehr selten. Auch im Griechischen kommen zwar einige Tempora, wie das Plusquamperfectum, Paulo post futurum, selten vor. Allein theils nicht so
                    selten, theils ist der Begriff dieser tempora selbst ein
                    seltener. Allein der des Aorists findet sich auf jeder
                    Seite eines erzählenden Gedichts vielemale. In den von 
                        Bopp gedruckten Episoden[d] ist das
                    Verhältniß ein ähnliches, wenn gleich die Formen andrer Verba hinzukommen,  wie von  {stu}, 
 {vac}, 
 {vadh}, 
 {dā}, 
 {jan}, 
 {cch}, 
 {bhī}. Doch bleiben
                    die im 
                        Nalus vorkommenden fünf Verba immer die, deren Praet. 3. am häufigsten
                    wiederkehrt. Bei der großen Aehnlichkeit des Stils und der Sprache ist nicht zu
                    glauben, daß es in diesem ganzen altepischen Kreise anders seyn sollte. Die
                    Prosa des 
                        Hitopadesa habe ich erst flüchtig hierauf
                    geprüft. Es ist mir aber beim Durchlaufen der ersten Hälfte nur Ein Beispiel,
                    das 3. Praet. von 
 {gam},
                    ich denke im 2. Buche, vorgekommen. Allein auch das 1 und 2 Praet. sind da minder häufig. Das herrschende Tempus ist das Praesens und die durch das Participium und das ausgelassene oder ausgedrückte Verbum-Subst. gebildeten Tempora.
Aus dem Allem ist mir klar, daß das Praet. 3 keines der
                        Tempora ist, die durch eine bestimmte grammatische
                    Bedeutung hervorgerufen werden. Hierzu hatte man zwei andre. Es war nur eins,
                    welches der Dichter entweder wegen der festen Gesetze des Metrum, oder wegen des Wohlklangs überhaupt, oder wegen der
                    Abwechslung und aus Neigung zu Archaismen aus seiner
                    halben Verschollenheit hervorzog. Daher stehen auch z. B.  {agamat} und 
 {agacchat} immer in
                    bestimmten Stellen des Verses.
Die Grammatiker bilden freilich von jeder Wurzel ein Praet. 3. Es folgt aber darum[e] nicht, daß sie alle diese Formen aus Werken excerpirt hatten. Vieles mochten sie aus dem Volksgebrauch schöpfen. Auch im Deutschen sind: er buk, er boll bekannt, dürften aber in Büchern schwer aufzutreiben sein. Vielleicht hatten sie aber auch nur ältere grammatische Schriften vor sich, aus denen sie, wie wir aus ihnen, diese Bildungen abschrieben. Wer weniger säuberlich mit ihnen umginge, würde sagen, daß sie sie großentheils analogisch selbst formten.
So wäre also das 3. Praet. kein eignes Tempus der Conjugation, sondern eine Nebenform des 1. Praet. Den gleichen Fall finden wir beim 1. Fut. das auch selten erscheint.
Bei den einzelnen Formen des 3 Praet. habe ich noch eine
                    Meinung, die aber allerdings mehr Vermuthung ist. Die ganze Abtheilung in die 4
                    ersten und 6 letzten Tempora ist nur Werk der Grammatiker, und es ließe sich viel darüber sagen. Die
                    Form des 3 Praet. die nur einen Bindevocal  {a}  annimmt, aber 
                        Guna und Nasale
                    verwirft,  ist nichts als eine reine Fortsetzung der 6ten Classe. Ich glaube nun, daß es in dieser
                    natürlichsten und vermuthlich ursprünglichsten Verbalbildung, vermuthlich nach Dialecten
                    geschieden, zwei Conjugationsarten gab, eine mit 
                        Guna, eine ohne. In unsrer Sanskritsprache hat die erstere die Oberhand behalten. Die 6. Cl. begreift nur wenig Wurzeln unter sich. Allein das
                        Praet. hat sich ohne 
                        Guna bei den Grammatikern im Praet. 3. erhalten.
In dem let müssen nach Paninis Angaben zwei Formen gewesen sein, und eine dritte noch ist darin zu vermuthen.
Daß nicht einmal die Endungen in diesen let dieselben
                    sind, ist wunderbar. Diese Gleichheit der Endungen kann man aber wohl nur in
                    derselben Sprachepoche erwarten, und let mag Formen aus
                    verschiedenen enthalten. Ich glaube nicht, daß  {dadat} grade Vergangenheitsendung hat. Ist doch das Praesens 
                        amat (obgleich Ew Wohlgebohren mir
                    wahrscheinlich einwenden werden, daß diese Form gewöhnlich von 
                        amati mit abgeschliffenem End-i abgeleitet wird) ebenso.
                    Der Vergangenheitsbegriff liegt im Augment und der Reduplication.
Die erste Form dieses let ist also in der Endung der 2.
                    Bildung des Praet. 3. (nach Bopp) gleich, hat aber i zum Bindevocal u. nimmt
                    die Vocalumbeugende Verstärkung an.  {neṣat},
                        
 {tāriṣat}. Dahin gehört
                    auch wohl 
 {āmoṣai}, nur daß da die
                    Endung wieder verschieden ist.
Die zweite Form hat  den Bindevocal  {a} und verstärkt denselben regelmäßig vor der Pronominalendung so daß 
 {a} in 
 {ā} übergeht. Im Parasm. scheint mir Ew Wohlgebohren Paradigma ganz richtig durchgeführt. Es ist aber sehr merkwürdig hier
                    zu sehen, wie, was wir jetzt als für wesentlich halten, früher gar nicht so fest
                    bestimmt war. Bei uns gehört im Dualis u. 1. plur. das End-
 {s} oder
                        
 {ḥ} ausschließlich
                    dem Praesens an, und fehlt den andren 3 ersten Tempora. Hier hat let beides.
                    Auch in Ihrem Paradigma würde ich dem Dual. durchaus diese Alternative geben. Unser Imperativ ist in 1. pers. parasm. ganz aus dem
                        let erklärbar. Denn 
 {karavāvaḥ} führt im Sing. auf 
 {karavāmi}, was nur
                    phonetisch von 
 {karavāni} sich
                    unterscheidet.
Vom Atmanepadam dieser zweiten einfachen Form hat 
                        Panini
                     bloß 1. sing. 2. 3. dual. und 3. Plur. Auch diese Formen zeigen
                    deutlich den Bindevocal  {a} der ersten
                    Classe und dessen Verstärkung vor der  Pronominalendung. Denn
                        
 {pataite}, was Ew
                    Wohlgebohren ganz richtig nach 
                        Paninis
                     
 {karavaite} bilden, ist doch
                    wohl nur erklärbar durch 
 {patete} der 1. Cl. was durch Verstärkung zu 
 {pataite} wird. Die Verstärkung geschieht hier durch 
                        Wriddhi, da ein 
                        Wriddhi-fähiger Vocal
                    da ist, sonst durch Verlängerung des 
 {a}, die,
                    glaube ich, bei den Grammatikern nicht auch 
                        Wriddhi heißen sollte, da 
                        Guna und 
                        Wriddhi das Zusammenfließen unähnlicher Vocale voraussetzen. Bei dieser Verstärkung fällt mir
                    ein, daß wir vielleicht Unrecht haben, die Verlängerung des 
 {a} vor 
 {v} u. 
 {m} in unsrer Conjugation dem Einfluß dieser Buchstaben zuzuschreiben.
                    Diese Formen sind eher Ueberreste früherer, sich im let
                    zeigender Conjugationsart. Das 
 {āni} des Imperativi scheint diese Meinung zu
                    begünstigen.
Ob man, wie Ew Wohlgebohren gethan haben, allen von 
                        Panini nicht angeführten Endungen die
                    Endung  {ai} geben muß,
                    bleibt zweifelhaft. Es ist wohl anzunehmen, u. durch das Atman. praes. angezeigt, daß ursprünglich alle Personen eines Tempus in demselben Vocal
                    auslauten. Wir sehen aber in let schon eine Ausnahme in
                    2. 3. dual.
Sehr merkwürdig sind die Formen  {karavaithe} u. s. f. Die 8. Cl. hat hier, gegen die
                    heutige Regel, auf die also auch nicht so fest zu bauen ist, in 2. 3. dual. Atman. Guna
                    . Damit ist aber der Bindevocal der 1. Cl.
                    verbunden. Denn an sich gäbe die 8. Cl. gunisirt nur 
 {karavāthe} wie, ohne 
                        Guna 
 {kurvāthe}. Aus dem letzteren könnte aber nicht 
 {karavaithe} entstehen, welches offenbar 
 {karavethe} 
                    wriddhisirt ist.
So zeigt dies let in vielen Punkten, daß mehrere unsrer heutigen Conjugationsregeln keine innerlich bedingte Nothwendigkeit, sondern nur einen historischen, zufälligen Grund haben.
Eine dritte Form (nämlich Endungen des 1. Praet. ohne
                    eingeschobenen Zischlaut) geben  {dadāt} und 
 {dadat}, und in ihr
                    liegen wieder zwei mit und ohne Vocalverstärkung.
Sollte nicht in dem  {upasaṃvādāśaṃkayośca} bei 
                        Panini
                     ein Druckfehler statt 
 {upasaṃvādha} cet. seyn?
                     {rārandhi} halten Ew
                    Wohlgebohren doch wohl auch für eine, nur etwas anomal
                    gebildete Intensivform. Der lange Vocal in der Reduplicationssylbe scheint es mir zu beweisen, da das
                        Sanskrit, außer den Intensivformen, nur mit kurzem
                        Vocal reduplicirt, die einzige 7. 
                        Farmation |sic| des 3. Praet. ausgenommen.
                     In nr. 73. 74. der Jahrbücher für wissenschaftliche
                        Kritik d. J. werden Ew Wohlgebohren einen kleinen
                        Aufsatz von mir über die Worttrennung im Sanskrit finden, den ich Ew Wohlgebohren, und Herrn v. Schlegels
                    gütiger Nachsicht empfehle. Ich schmeichle mir mit der Hoffnung, daß keiner von
                    Ihnen darin einen Angriff auf den Druck Ihres 
                        Ramayana sehen wird. Ich bin zwar von der
                    Richtigkeit meiner Meinung fest überzeugt, und habe sogar Einiges nicht
                    angeführt, was sich wohl noch gegen die Schreibung, welche die Engländer
                    eingeführt haben, einwenden läßt. So schreiben diese  {vanāt} 
                    
 {tasmāt}: Wollte man aber
                    consequent alle Wörter zusammenziehen, wo End- u. Anfangsbuchstaben einander
                    affiziren, so müßte man es auch mit diesen thun. Denn das Anfangs-
 {t} des zweiten ist
                    der einzige Grund, warum das End-
 {t} des ersten sich
                    unverändert erhält. Ich fühle aber sehr gut, daß man auch einer andren Meinung
                    sein kann, und daß, selbst wenn man es nicht wäre, man es praktisch besser
                    finden kann, bei einer nun einmal eingeführten Gewohnheit zu bleiben. Wahr ist
                    es indeß freilich, daß 
                        Schlegels Ansehen und Gewicht, wenn er
                    meine Theorie für richtig hält, und ein Werk, wie diese
                    herrliche Ausgabe des 
                        Ramayana, die Sache auf einmal für immer für
                    Deutschland festgestellt haben würden, und dann wäre nach und nach auch das
                    Ausland gefolgt.
Ich habe mit dem größesten Interesse und Vergnügen die Vorrede zum Ramayana gelesen, die Herr v. Schlegel meinem Bruder geschickt hat. Die Geschichte, welche darin von der Behandlung des Textes des Ramayana gegeben wird, ist vortreflich. Es ist das erstemal, daß die Fackel der Kritik in das Gebiet der Sanskrit-Literatur wahrhaft getragen wird. Sehr gut ist es auch, daß Schlegel in der Benutzung der beiden hauptsächlich verschiedenen Texte des Gedichts nicht einem steifen Princip gefolgt ist, sondern seinem kritischen Gefühl und seinem Geschmack die Entscheidung erlaubt hat. Er kann beiden so sicher vertrauen; und da seine Ausgabe erst den Ramayana unter uns bekannt machen wird, so wird das Gedicht nun so bleiben und auf die Nachwelt übergehen, wie er es festgestellt hat. Außer dem reichen Gehalt dieser Vorrede habe ich auch die meisterhafte Behandlung des Römischen Ausdrucks darin bewundert. Es ist unendlich selten, daß in einer ächten und classischen Latinitaet sich zugleich in diesem Grade die Individualitaet des modernen Schriftstellers und seines Zeitalters erhält. Erstaunt bin ich über die Menge der verglichenen Handschriften. Wenn man die Mühsamkeit solcher Vergleichungen nur einigermaßen kennt, scheint es eine wahre Riesenarbeit.
                    |
Humboldt| Ich habe mich einer fremden Hand bedient, um Ew.
                    Wohlgeboren nicht mit der Entzifferung meiner unleserlichen beschwerlich zu
                    fallen. Die Verspätung meiner Antwort halten Sie mir gewiß zur Gute. Ich habe
                    seit dem Empfang Ihres Schreibens mich in einer so traurigen und mein ganzes
                    Gemüth so aufregenden Lage befunden, daß ich kaum jetzt noch zu einem
                        freien|?| u. nicht innerlich gestörten Arbeiten mich zu
                    sammlen fähig bin.
Humboldt
Tegel bei Berlin, den 16. Mai, 1829.
Fußnoten
- a |Editor| Ein Brief dieses Datums ist von Lassen nicht erhalten; der letzte Brief stammt vom 16. Februar 1829 (jedoch gibt es einen Brief Bopps vom 27. Februar 1829). Inhaltlich bezieht sich dieser Brief auf die im Schreiben vom 16. Februar abgehandelten Sachverhalte. [FZ]
 - b |Editor| Die an dieser Stelle fehlenden Devanagari-Worte sind aus dem eigenhändigen Konzept (Krakau, Coll. ling. fol. 21, Bl. 120–123) eingefügt.
 - c |Editor| Im Konzept heißt es: „wie im Griechischen“.
 - d |Editor| Ist damit Ardschuna’s Reise oder Die Sündflut gemeint?
 - e |Editor| Im Konzept: „daraus“.
 

