Wilhelm von Humboldt an Friedrich Heinrich Jacobi, 23.01.1797

Jena, 23. Jan. 1797.

So lange auch mein Stillschweigen gedauert hat, liebster Jacobi, so kann ich mich doch nicht einmal einer Nachlässigkeit darin zeihen. Theils eignes Uebelbefinden, theils die Kränklichkeit meiner Frau, vorzüglich aber die zugleich zerstreuenden, u. verstimmenden Geschäfte, die mir der Tod meiner Mutter, den Ihnen meine Frau meldete, zuzog, und die um so weitläuftiger wurden, weil es mir nicht möglich war, selbst nach Berlin zu gehen, u. nun des Hin- und Herschreibens kein Ende war – alle diese Dinge zusammengenommen, rechtfertigen mich sicher bei Ihnen u. zeigen Ihnen die Unmöglichkeit an einen Brief zu gehen, wie ich ihn Ihnen gern schreibe. Jetzt ist das Meiste von diesen Dingen über die Seite geschaft, u. ich eile jetzt um so mehr meine Schuld bei Ihnen abzutragen, als ich Ihnen zugleich eine Nachricht mittheilen kann, an der mir Ihre innige Freundschaft einen herzlichen Antheil verspricht.

Meine Frau ist am 19. d. M. von einem Sohne glücklich entbunden worden; sie befindet sich für ihre Lage und besonders für ihr fortdauerndes Kränkeln in der Schwangerschaft recht leidlich wohl, u. das Kind ist ungewöhnlich munter u. gross. Unsrer beider Freude können Sie Sich kaum gross genug denken. Ohne es uns selbst recht zu gestehen, waren wir doch beide diessmal fast mehr als sonst über den Ausgang zweifelhaft und besorgt, und nun sind wir nicht bloss von dieser Besorgniss befreit, sondern sehn auch darin unsre Wünsche erfüllt, dass wir einen Jungen besitzen, der uns diessmal viel lieber war, als ein Mädchen. Was diese Gefühle vermehrt ist die Lebendigkeit u. Stärke des Kindes selbst, das, mehr als eins unsrer vorigen, durch seinen Anblick selbst unmittelbar die Zuversicht einflösst, dass es fortleben, wachsen u. sich seines Daseyns erfreuen wird. Meine Frau grüsst Sie und Ihre lieben Schwestern[a] von ganzer Seele, u. freut sich im Voraus des Vergnügens, das diese Nachricht Ihnen allen gewiss verursacht.

Ihr neulicher Brief, liebster Freund, handelt fast durchaus von der berüchtigten Rec. Ihres Woldemar, die ich grade den Tag zuvor, ehe Ihr Brief ankam, gelesen hatte. Sie ist allerdings, wie Sie nun gewiss ausführlich wissen, von Schlegel, aber nicht von Wilhelm August, dem älteren (dem Vrf. mehrerer Gedichte im Bürgerschen u. Schillerschen Almanach, u. der Rec. des Vossischen Homers) sondern von Friedrich, dem jüngeren, u. allerdings ists auch richtig, dass ich diesen Schlegel seit länger als zwei Jahren durch Briefe, u. seit ich hier bin, auch persönlich kenne.

Was ich über die Rec. selbst denke, darüber brauche ich Ihnen nichts zu sagen. Meine eigne, die eigentlich ärger, als Ihr Buch selbst mitgenommen ist, u. Ihnen insofern vielleicht den ganzen Handel zugezogen hat, als sie nach Schlegels Meynung die Nemesis aufgerufen haben mag, ist Ihnen ein hinlänglicher Zeuge dafür. Nur über das Verhältniss des Recensenten selbst zu diesem Produkt, bin ich nicht ganz einerlei Meynung mit Ihnen, oder wenigstens bin ich zweifelhaft darüber. An eigentliche Bosheit kann ich bei ihm, wenigstens gegen Sie, nicht glauben. Persönlichkeit läuft noch weniger mit unter. Unstreitig verhält sich die Sache in ihm so. Er hat bemerken müssen, dass Ihr Woldemar eine grosse Sensation macht, dass er allgemein gelesen u. allgemein geliebt wird. Er hat ihn u. Ihre übrigen Schriften gewiss mit Anstrengung studirt – aber nach seiner Manier, d.h. nach einer einseitigen u. die leicht schief sieht. Er hat danach zu finden geglaubt, dass Ihr Buch, Ihre Grundsätze, Ihre ganze Tendenz gefährlich sey, um so gefährlicher, je verführerischer. Das ist bei ihm genug, um nicht mehr zu zweiflen, um sich berufen zu glauben, mit allen Kräften dagegen zu arbeiten; u. nun ist der Enthusiasmus, der Kitzel, die Eitelkeit zu gross, als dass er über Mittel u. Waffen noch lange nachdenken sollte. Mit einem Wort es ist eine Don Quixotiade, im genauesten u. vollsten Verstande, aber schwerlich mehr. Sie werden schwerlich finden, dass Schl. bei dieser Erklärung genug gewinnt, um mich einer Partheilichkeit für ihn zu beschuldigen. Aber, soviel ich ihn kenne, hängt es auf diese Weise zusammen, u. da man alle Dinge auch, ausser ihren übrigen Beziehungen, als Naturphänomene betrachten kann, (wobei man warlich mit den meisten Menschen nicht verliert) so ist das immer nicht unintressant ihre eigentliche Beschaffenheit zu erforschen.

Die gehässige Art dieses Schlegels ist es vorzüglich, nie bei Einem, ja nicht bei allen Werken eines Schriftstellers zusammengenommen stehen zu bleiben, sondern immer zugleich den ganzen Menschen selbst zu recensiren. In der Rec. des Woldemar ist diess bis zum Ekel widrig u. abscheulich, allein in geringerem Grade hat er es auch mit Schiller (den er in seiner Rec. des Almanachs von 1796. u. wie es heisst auch von 1797. im Deutschland arg mitgenommen hat) u. obgleich seiner Meynung nach, im Lobe mit Göthe, in andern seiner Aufsätze gethan. An sich wäre diese Methode allerdings zur rechten Zeit sehr empfehlungswürdig. Wie selten gelingt es auch dem Genie sich ganz u. gar in Einem Producte auszuprägen? wie oft muss dieser Zug hier, jener dort in seiner Vollendung aufgesucht werden, ehe das ganze Bild lebendig da stehn kann? Allein freilich erfodert es dann einen andern Charakter im Beurtheiler. Er muss dann Ehrfurcht für das Object, u. für das seinige insbesondre haben, u. die Furcht, auch irren zu können muss ihn behutsam u. bescheiden, die Achtung gegen seinen Gegenstand zart, sanft, u. delikat machen. Von allem diesem ist leider bei Schl. fast der umgekehrte Fall u. daher wird er schwerlich je zu einem Beurtheiler in der Art taugen, in der er grade glänzen will. Viel eher könnte er etwas ganz Einzelnes richten.

Uebrigens aber, da ich Ihre Partheilosigkeit in Rücksicht auf Sie selbst kenne, lieber Jacobi, wollte ich doch, dass Sie diesen jungen Menschen nicht ganz aus den Augen verlören, u. seine Producte von Zeit zu Zeit einiger Aufmerksamkeit würdigten. Ausser den Beurtheilungen im Deutschland (wo neulich auch Schlosser seine Strenge erfahren hat) u. einigen Aufsätzen in den letzten Jahrgängen der Berl. Monatsschrift[b] ist jetzt von ihm ein eignes Buch: Beiträge zur Kenntniss der Griechen[c] erschienen. Es ist, soviel ich einen Menschen beurtheilen kann, unläugbar, dass höchst selten ein so guter u. scharfblickender Kopf gefunden werden wird. Wenn man sich nicht die Mühe verdriessen lässt, durch eine höchst unklare Diction, u. durch manche sonderbare u. auch verkehrte Begriffe sich durchzuarbeiten, so muss man gestehen, dass eine Naturanlage zum Grunde liegt, die gewiss Bewunderung verdient. Seine Produkte, wie sie da sind, sind von sehr zweideutigem Werth, wenigstens kann man sie kaum lesbar nennen, aber man muss nur diese Jugend dieses Menschen (er mag höchstens 25 Jahr alt seyn) die Schwierigkeit der Materie, die er bewegen will, u. die Art bedenken, wie er diess thut, wo er immer alles von dem Mittelpunkt aus umzuschwingen versucht, u. sich nie an einer einzelnen Seite hält.

Dennoch ist es im höchsten Grade zweifelhaft, ob je auch nur ein brachbarer Schriftsteller aus dieser Anlage hervorgeht. Innere u. äussere Gründe kommen zusammen, Zweifel dagegen zu erregen. Es fehlt ihm durchaus an Empfänglichkeit, u. daher kommt grossentheils seine Härte und Störrigkeit; ebensosehr mangelt ihm die Jugend, die er nur auf seinem Gesichte trägt. Er hat allen Ernst, alle Arbeitsamkeit, das ganze gesittigte u. zurückgezogene Wesen eines reifen u. beinah überreifen Mannes. Nur in seinen Fehlern u. in einem excentrischen Wesen in seiner Schriftstellerei sieht man das Gegentheil. Er ist gewiss höchst humoristisch u. seiner Laune unterworfen, aber diess thut ihm nur um so mehr Schaden, als seine Laune mehr bitter u. düster, als lustig u. muthwillig ist. An Eitelkeit fehlt es ihm sicherlich nicht, indess ist es mehr Zuversicht zu jeder Jdee |sic|, die ihn jedesmal erwärmt, als Zuversicht zu sich u. seinem Talent überhaupt, u. ebendaher ist er im Umgange sehr bescheiden. Von aussen her haben widrige Lagen, in denen er sich befunden hat u. die Richtung, die er jetzt zum Polemisiren bekommt, gewiss schlimm auf ihn eingewirkt.

Meine Bekanntschaft mit ihm ist mehr lang als gross. Seit 1794. haben wir uns einige Briefe geschrieben, die das griechische Alterthum (sein eigentliches Studium) betrafen, ohne uns je gesehn zu haben. Wie ich jetzt herkam war er auch hier u. hat mich drei oder viermal besucht. Seit mehreren Wochen aber ist er in Halle. Sein Aeusseres ist überaus einnehmend. Er hat ein stilles, nachdenkendes, geistvolles u. bescheidnes Gesicht; spricht wenig u. kaum andres, als über wissenschaftliche Dinge. Sein störrisches Wesen zeigt sich im Umgang nur dadurch, dass er einen Streit leicht abbricht, statt ihn fortzusetzen. Drum habe ich ihm nie eigentlich nah kommen können.

Da hätten Sie denn, lieber Freund, gewiss genug über diesen Menschen. Schreiben Sie es Ihrer eignen Aufforderung zu, wenn es zuviel ist. Lachen muss ich, dass ich in Schl. eigne Fehler verfallen bin. Denn dieser Brief ist warlich eine Recension des ganzen Menschen, u. noch dazu auf 3 Briefe u. ebensoviele Besuche. Drum bitte ich Sie auch ausdrücklich, lieber Jacobi, diess Urtheil, das ich so meo pericolo hinschreibe, im strengsten Verstande für Sich zu behalten.

An Ihren Vorschlag einer neuen Recension habe ich recht reiflich gedacht. Allein ich weiss kein Subject dazu, u. mich selbst hält bloss der Umstand ab, dass auch ich u. meine Rec. von Schl. angegriffen sind, u. es meiner Gesinnung ganz entgegenläuft, auf einen Angriff zu antworten. Auch sehe ich kaum, was Sie bei dieser Beurtheilung verlieren, oder was Ihr Buch für Gefahr laufen kann. Ich bin um so kürzer hierüber, weil ich vermuthe, dass Sie selbst jetzt bei längerer Ueberlegung Ihre Meynung geändert haben. Es ist in der That nicht der Mühe werth, sich solche Ereignisse noch anfechten zu lassen.

Ich bin jetzt wieder ziemlich frei, theurer Jacobi, u. durch mich soll keine weitere Störung unseres Briefwechsels entstehn. Machen Sie, Lieber, dass er recht bald wieder lebhaft angeht.

Ihr lieber Max ist zwar noch in Weimar, er hat mich indess ein Paarmal hier besucht, und ich erwarte ihn noch in dieser Woche. Er hat uns versprochen, mit uns zu essen, u. uns recht viel zu sehn. Es thut uns nur leid, ihn jetzt, da wir meiner Frau wegen, mehr Platz brauchen, nicht auch bitten zu können, bei uns zu wohnen.

Empfehlen Sie mich herzlich an Lenchen u. Lottchen, und leben Sie innigst wohl!
Ihr
Humboldt.


Dass sehr viele Xenien gegen diesen Schlegel gerichtet sind, haben Sie wohl selbst gemerkt.[d]

Die Inlage an die Stolbergen[e] sind Sie wohl so gütig zu besorgen. Eben so die von meiner Frau an das Christinchen. Dieser u. Reimarusens[f], Sievekings[g] u. Poels[h] machen Sie doch auch die Niederkunft meiner Frau, wenn Sie so gütig seyn wollen, bekannt.

Fußnoten

    1. a |Editor| Gemeint sind die beiden im Haushalt Jacobis lebenden Halbschwester, s.u.
    2. b |Editor| Es handelt sich um die drei Aufsätze "Von den Schulen der Griechischen Poesie", "Vom ästhetischen Werthe der Griechischen Komödie" und "Über Diotima". Vgl. Mattson 2017, S. 580, zu Z. 73. [FZ]
    3. c |Editor| So lautete der Arbeitstitel; im Laufe des Jahres 1797 erschien der Band unter dem Titel "Die Griechen und Römer"; vgl. Mattson 2017, S. 580, zu Z. 74. [FZ]
    4. d |Editor| Gegen Schlegels Rezensionen von Schillers Almanach richten sich die Xenien 825–844; Erich Schmidt / Bernhard Suphan (Hrsg.) (1893): Xenien 1796. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs herausgegeben (Schriften der Goethe-Gesellschaft, 8. Band), Weimar: Verlag der Goethe-Gesellschaft, S. 210–215; Mattson 2017, S. 580, zu Z. 128. [FZ]
    5. e |Editor| Gemeint sind Friedrich Leopold zu Stolberg-Stolberg und seine zweite Ehefrau Sophie Charlotte Eleonore, die in Eutin, dem seinerzeitigen Wohnort Jacobis, lebten. Stolberg war Präsident der fürstbischöflich-lübeckischen Kollegien in Eutin. [FZ]
    6. f |Editor| Der Arzt und Naturforscher Johann Albert Heinrich Reimarus und seine Frau, die Salonnière Sophie Reimarus.
    7. g |Editor| Der Kaufmann Georg Heinrich Sieveking und seine Frau Johanna Margaretha, eine Tochter von J. A. H. Reimarus.
    8. h |Editor| Der Diplomat und Schriftsteller Piter Poel und seine Frau Friederike Elisabeth.