Wilhelm von Humboldt an August Wilhelm von Schlegel, 05.05.1821
[a] Ich bin Ew. Hochwohlgebohrnen noch meinen Dank für die Uebersendung der Indischen Bibliothek schuldig, die mich ungemein interessirt hat. Ich wünsche nichts mehr, als daß Sie dieselbe recht bald und schnell fortzusetzen Gelegenheit finden mögen. Ich habe seit dem Anfang dieses Jahres meinen längst gehegten Wunsch ausführen können, selbst Sanskrit zu lernen.[b] Ich habe alle mündliche u. lebendige Hülfe entbehren müssen, und bin daher freilich erst so weit, daß ich in Büchern mit wörtlicher Uebersetzung (wie der Nalus von Bopp ist) die einzelnen Wörter herausfinden u. meist mit Hülfe der Grammatik u. des Lexicons analysiren kann. Ich denke indeß durch eifrige Arbeit nun schneller weiter zu kommen. Mein Zweck bei diesem Studium ist mehr die Sprache, als die Literatur, gerade aber in dieser Hinsicht bietet das Sanskrit ein sehr großes Interesse dar. Einige Dinge besonders werde ich vermuthlich noch lange nicht recht begreifen. So z. B. wie es eigentlich mit dem zusammenhängt, was man Wurzeln nennt. Diese Wurzeln u. der status absolutus (crude state) der Wörter liegen, wie außerhalb der Sprache, wenn auch manchmal besonders das Neutrum den Wurzeln gleich ist. Sind sie nun Bildungen der Grammatiker, oder gehören sie einem frühern Zustand der Sprache an? Merkwürdig ist auch, daß die modi außer dem Indicativus, nur Ein tempus haben, so daß Wilkins z. B. tempora u. modi zusammenwirft u. Alles tenses nennt. Aus seiner Grammatik bringt man auch nicht heraus, daß die Sprache wirklich, wie die Griechische, vollständig alle tempora, welche die allgemeine Sprachlehre fordert, sey es nun mit wahren flexionen, oder mit Hülfsverben, wie μέλλω, zu machen im Stande ist. Am aller wunderbarsten kommt es mir aber vor, daß die heutigen Sprachlehren wenigstens das Sanskrit ganz als eine bloß zu lesende, und nicht auszusprechende Sprache behandeln, da sie gar keine Accentlehre aufstellen. Wilkins sagt, daß die Vedas Accente bezeichnen, und nennt diese den Griechischen ähnlich. Aber auf diese dürftige Nachricht beschränkt sich auch Alles, was bei ihm darüber vorkommt. Dennoch lassen sich hier die interessantesten Fragen aufstellen, und die Sache ist im Sanskrit um so wichtiger, als genau genommen, nur der Accent bestimmen kann, welche Silben zu Einem Worte gehören, u. was ein Wort ausmacht, und als das Sanskrit, auch die bloßen orthographischen Launen abgerechnet, die Wörter so häufig durch Zusammenziehen ihrer End- und Anfangslaute, oder Veränderung derselben, Wörter verbindet, die in andren Sprachen geschieden sind. Hatten nun diese Wörter verschiedne Accente, oder wurden sie wirklich zu Einem unter demselben? Interessant wäre es auch zu wissen, ob der acutus auch, wie im Griechischen im Zusammenhang der Rede zum gravis wird?
Ihre Uebersetzung habe ich mit dem größesten Vergnügen gelesen. Die Hexameter sind überaus schön. Nur zwei Fragen möchte ich mir erlauben. Ich bin ganz Ihrer Meinung, daß ein Trochaeus in einem Hexameter ein Unding ist, und daß man auch recht gut, u. nicht einmal mit so außerordentlicher Schwierigkeit die Trochaeen vermeiden kann. Allein sollten dann nicht auch die Pronomina, die nicht orthotonirt sind, als Kürzen gelten u. aus einem Fuß, der kein Dactylus ist, verbannt werden müssen? Auf mir lastet z. B. scheint mir doch noch immer ein trochaeischer Anfang. Eben dies halte ich von den Praepositionen, selbst vor u. aus nicht ausgenommen. Es ist zwar wahr, daß diese hier genannten Wörter in der Aussprache eine gewisse Länge haben, aber diese Länge, die bloß aus der Natur ihrer Laute fließt, u. sich ganz von derjenigen unterscheidet, welche der Sinn giebt, wie in auf mir lastet, scheint mir nicht hinlänglich, einen Fuß im Hexameter als Spondaeus zu bezeichnen. Auch die Endsilben von Erfüllung reichen, meinem Gefühl nach, nicht dazu hin. Die zweite Frage betrift die Caesur nach den ersten beiden Silben im 4. Fuß, wenn dieser ein Dactylus ist. Ganz rein, so daß die beiden ersten Silben die Endsilben des einen, u. die letzte des Dactylus Anfangssilbe eines mehrsilbigen Wortes sind, findet er sich bei den Griechen selten, im ganzen Homer kaum 8–9mal, bei den Lateinern häufiger. Auch Sie haben diese Stellung durchaus vermieden. Nur in einigen Fällen haben Sie dieselbe beibehalten, in welchen es auch wirklich zweifelhaft ist, ob es nicht zulässig seyn dürfte, u. über diese wollte ich reden. Ein Beispiel ist | beiden Ge | mahlinnen, auch, obgleich da der Fall etwas anders ist, Stamm | halter zu | seyn des Geschlechtes. Wolf, mit dem ich oft über solche Dinge rede, hält beide Stellungen für vollkommen richtig, weil beiden ganz eng, u. als wäre es Ein Wort zu Gem. gehört, u. dies ebenso mit zu sey. Ich kann aber darin nicht einstimmen. Der Grund der ganzen Regel, die diesen 4. Trochaeus als Caesur verwirft, scheint mir darin zu liegen, daß es nicht angenehm ist, wenn im Lesen, nachdem man beim 4. Trochaeus einen Augenblick verweilt hat, der Rest des Verses mit einem ⏑‒ u. nicht mit einem ‒ ‒ oder ⏑⏑‒ aufs neue anhebt. Dieses Anheben mit dem ⏑‒ ist nun aber bei diesen beiden Stellungen doch unvermeidlich, was man auch thun mag, so wie man natürlich liest. Denn Ge- u. zu müssen nothwendig immer enger mit mah u. seyn verbunden werden, als es den, u. ter seyn können, die gewissermaßen nur Austönungen ihrer Vorsilben sind. Gewiß müssen Hexameter unendlich correct seyn, wenn man darauf kommen soll, bei ihnen über solche kleine Unterschiede zu rechten. Auch thue ich es nur, um Ihr Urtheil über die Grundsätze zu wissen. Worin aber diese Hexameter auch so wahrhaft meisterhaft sind, das ist das, was keine Regel beurtheilen kann, sondern worin sich bloß das poetische Gefühl u. Talent frei beweist, die Mischung u. Folge der Füße u. Abschnitte, ohne welche auch die höchste Correctheit doch keinen Wohlklang gewährt. Es ist sehr zu wünschen, daß Sie mehr Stücke auf gleiche Weise behandeln. Doch möchte ich, Sie verschmähten das einheimische Sylbenmaß nachzubilden nicht ganz. Der Hexameter hat doch immer in dieser Anwendung das gegen sich, daß er, wenn dies auch Schuld der Leser ist, zuviel Griechischen Anklang mit sich führt, u. dadurch der Eigenthümlichkeit schadet. Unter Ihrer Behandlung würde auch das einheimische Sylbenmaß ganz anders erscheinen, da Sie ihm in den freien Stellen Mannigfaltigkeit u. Wohllaut zu geben wissen würden.
Sie werden in Kurzem durch meinen Bruder eine Schrift von mir bekommen, die ich Sie bitte, zu meinem Andenken zu behalten. Es ist eine vermittelst der Vaskischen Sprache angestellte Prüfung der Untersuchungen über die Urbewohner Hispaniens. Ich habe Gelegenheit gehabt, da ich auch der Urbevölkerung Italiens erwähnen muß, auch Ihrer Meynungen zu erwähnen, u. bin, wie Sie sehen werden, mehreren derselben völlig beigetreten. Obgleich diese Schrift sich nur auf die Vergleichung der Ortnamen u. auf ihre Etymologie, nicht aber auf die Vergleichung der Sprachen selbst einläßt, so glaube ich, werden Sie mir beistimmen, daß man doch schon aus dem in dieser Rücksicht Entwickelten deutlich erkennt, daß die Vaskische Sprache vollkommen zu den ältesten Europäischen gehört, daß sie besonders mit dem Lateinischen viele Stammwörter gemeinschaftlich besitzt, und daß gar nicht daran zu denken ist, daß sie, wie Leibnitz einmal vermuthete, aus Africa, oder wie Neuere gewollt haben, aus America zu uns herübergekommen sey. Ich würde schon längst eine eigentliche Vergleichung der Sprache selbst mit andern Europäischen angestellt haben, wenn ich nicht gern immer damit von Jahr zu Jahr wartete. Solche Vergleichungen sind wirklich immer in dem Grade mehr gut, in dem man selbst mehr Sprachen weiß, und so bringt ihnen, wenn man indeß nur nicht müßig bleibt, die Zeit von selbst Gewinn. Allein auch die Arbeiten Andrer warte ich noch gern dabei ab, u. so wünschte ich vorzüglich, daß wir erst das Werk besäßen, was Sie vorbereiten, u. worauf Sie auch in der Indischen Bibliothek einigemale hinweisen. Ich schmeichle mir mit der Hofnung, daß Sie mit den Resultaten meiner Schrift vollkommen einverstanden seyn werden. Auch verrücken dieselben nur Weniges von dem, was man schon jetzt in den Schriften der Vorzüglicheren über diese Gegenstände fand, sondern ordnen es nur besser, bestimmen es näher, u. stützen es auf bessre u. sichrere Gründe. Allein das Einzelne mag sehr der Nachsicht der Leser bedürfen, u. ich empfehle es der Ihrigen. Wenn man viele Jahre so gut als ausschließend in Geschäften gelebt hat, so fehlt einem Manches, was doch einer Schrift nicht fehlen sollte, u. so geräth man wohl auch in manchen Irrthum. Vielleicht hätte ich besser gethan, mit der Schrift zu warten, bis einige Jahre Muße länger mich tiefer in die Studien, die ich treibe, eingeführt, u. mich mehr darin be-festigt hätten. Aber da ich über das Vaskische noch, in ganz eigentlicher Rücksicht auf die Sprache zu schreiben gedenke, so wünschte ich vorläufig zu wissen, was man zu den Resultaten meiner jetzigen Untersuchungen sagen würde, und hätte ich auch dies noch hinausgeschoben, so vergeht doch ein zu großer Theil des Lebens.
Ich werde den Sommer in Schlesien zubringen, bitte Sie aber doch, wenn Sie mir die Freude machen wollen, die eine recht große für mich seyn wird, mir zu schreiben, Ihren Brief nur hierher zu addressiren. Ich bekomme ihn auf diesem Wege gleich schnell u. mit mehr Sicherheit.
Erhalten Sie mir u. der Zeit, die wir vor langen Jahren zusammen zubrachten, u. die mir immer sehr theuer bleibt, Ihr gütiges Andenken, u. nehmen Sie die Versicherung meiner ausgezeichnetesten u. freundschaftlichsten Hochachtung an.Humboldt
Berlin, den 5. Mai, 1821.
Fußnoten
- a |Editor| Oben rechts in Schlegels Handschrift: "d. 5ten Mai. 21."
- b |Editor| Schlegel berichtet Colebrooke über Wihelm von Humboldts Sanskrit-Studien in seinem Brief vom 5. September 1821: Rosane Rocher / Ludo Rocher (2013): Founders of Western Indology. August Wilhelm von Schlegel and Henry Thomas Colebrooke in Correspondence 1820–1837, Wiesbaden: Harrassowitz, S. 57 mit Anm. 137. [FZ]