Wilhelm von Humboldt an Johann Georg Forster, 28.10.1789

Bern, den 28. October 89.

[…] Unstreitig interessirt Sie von allen meinen zürichschen Bekanntschaften Lavater am meisten. Also zuerst von ihm. Ich war fast täglich Eine oder mehrere Stunden bei ihm, und da er seine gewöhnlichen Geschäfte meinetwegen nicht unterbrach, so sah ich ihn in so vielen charakteristischen Lagen, daß ich ihn hinlänglich beobachten konnte. Durch das, was mir Jacobi von ihm gesagt, durch manches, was ich selbst von ihm gelesen hatte und worin mir Spuren tiefen und wirklich seltnen Geistes unverkennbar schienen, war meine Erwartung in der That hoch gespannt. Ich erwartete eine Fülle neuer, großer, fruchtbarer, wenn gleich auch oft nur halb wahrer, oft gar schwärmerischer Ideen. Allein in allem dem fand ich mich sehr getäuscht, und nicht bloß getäuscht, weil ich so viel erwartete, sondern wirklich, weil ich so wenig fand. Ich hätte die interessanten Ideen zählen können, die ich in den ganzen 14 Tagen von ihm hörte, und ich würde mich schämen, damit einen einzigen Tag, bei Ihnen oder Jacobi zugebracht, zu vergleichen. Hie und da ist freilich ein tiefer und schneller Blik, aber sein Geist ist zu kleinlich, hat weder die rastlose Thätigkeit, womit wirklich genialische Köpfe die geahndete Wahrheit aufsuchen, noch die fruchtbare Wärme, womit sie die gefundne umfassen. Ewiger Rükblik auf sich, Eitelkeit, Ausdruck geistloser und fader Herzensgefühle, Spielerei in Worten rauben ihm alle wahre Kraft. Ganz anders würde dieß wahrscheinlich alles sein, wenn er wahre Gelehrsamkeit besäße, wenn er auch über fremde Ideen mehr gedacht hätte, und wenn er noch jezt mehr läse. Allein so lebt er immer nur in seinen eignen Ideen und seine Beschäftigungen, die ich nun so oft mit ansah, sind großentheils wahre Spielereien. Ordnen seiner physiognomischen Zeichnungen, Beschreiben von Urtheilen in einzelnen, oft sehr holprichten Hexametern, Korrespondenz, Besorgung einer unendlichen Menge von Kleinigkeiten für Leute aller Art, kleine Gelegenheitsgedichte u.s.w. Ueberhaupt ist es unbeschreiblich, wie viel er auf die Form und das Aeußre hält. Er ließ mich oft allein in seiner Stube, und das war mir immer interessant. Einen großen Theil seiner Bücherbretter nehmen pappene Futterale ein. Einige enthalten gesammelte Briefe. Da waren „Wichtige Briefe“, „Briefe von andren“, „Briefe an Jünglinge“ und zwei dikke Bände mit der Aufschrift: Bremen. Auf vielen andren stehen einzelne Namen, und da fand ich manchen Bekannten, und noch mehr manche Bekanntin. Ich rieth lange, was das sein könnte. Noch den letzten Tag erklärte ers mir. Er legt in diese Futterale das von seinen Arbeiten, was die Person interessiren kann. An eine seiner Freundinnen, die ich auch sehr genau kenne, gab er mir den Inhalt eines solchen Futterals offen mit[a]. Was war das nun? Nichts als theils frömmlende, theils empfindsame, aber alle höchst ideenleere Gedichtchen, sauber abgeschrieben, auf feinem Papier mit in Kupfer gestochenem Rand. An den Wänden hiengen hie und da in Rahmen gefaßte Täfelchen mit Sprüchen aus dem ,Lesebüchlein für Weise‘. Auf dem Tisch lag eine auf Holz gespannte Pergamenttafel mit der Ueberschrift: „Nöthigste Geschäfte“. Kurz, ich würde nicht fertig, wenn ich Ihnen alle Merkwürdigkeiten dieser Stube erzählen wollte, und ich begreife nicht, wann der Mann an die Materie kommt, da ihn die Form so viel Zeit kosten muß.

Meine wichtigsten Unterredungen mit ihm waren über Physiognomik, und über deutsche Schriftsteller, und den Maaßstab, nach dem man Geistesprodukte bei uns beurtheilt. Es mag wohl viel Schwärmerei darin liegen, die ganze Sinnenwelt so nur als eine Art anzusehn, wie die unsinnliche erscheint, nur als einen Ausdruck, einen Chiffre von ihr, den wir enträtseln müssen; aber interessant bleibt die Idee doch immer, und wenn man sich recht hineinträumt, schön die Hoffnung, immer mehr zu entziffern von dieser Sprache der Natur, dadurch – da das Zeichen der Natur mehr Freude gewährt als das Zeichen der Konvention, der Blik mehr als die Sprache – den Genuß zu erhöhen, zu veredlen, zu verfeinern, die grobe Sinnlichkeit, deren eigentlicher Charakter es ist, im Sinnlichen nur das Sinnliche zu finden, zu vernichten, und immer mehr auszubilden den ästhetischen Sinn, als den wahren Mittler zwischen dem sterblichen Blik und der unsterblichen Uridee. Über unsre Literatur, darüber, daß so wenig Produkte erscheinen, aus welchen eigentlich Genie hervorblickt, sagte er freilich manches Gute. Aber wen nahm er nun von dem allgemeinen Verdammungsurtheil aus? Haben Sie je solche Zusammenstellung gehört? Jacobi, Spittler – und Löfler aus Gotha, den lezteren aber nur nach einem Gespräch mit ihm, nicht nach seinen Predigten, wonach er ihn nur für einen „vornehmen Philister“ gehalten hätte. Denn Philister ist ihm jeder, in dessen Produkten wohl Richtigkeit der Ideen, Korrektheit der Sprache, Eleganz der Darstellung, aber nicht eigentliches Genie ist.

Von Zürich aus besuchte ich Zug und Lucern. Ich hatte schönes Wetter und konnte der herrlichen Aussichten am Züricher See ganz genießen .

Noch schöneres und heitreres Wetter hatte ich auf meiner jezigen Wanderung, auch die höchsten Berge bedeckte kein Wölkchen. Ich ging in das Lauterbrunner und Grindelwalder und von da über die Scheidek in das Haßlithal, dann die Aar hinauf bis nach Spital, um über die Furke den Gotthard zu ersteigen. Allein ein tiefer Schnee, der gerade fiel, als ich in Spital übernachtete, vernichtete meinen Plan, und ich mußte vergebens wieder umkehren. Ich brachte sehr glückliche Tage in diesen rauhen wilden Gegenden zu. Nie wurde meine Seele mit so großen Bildern unwiderstehlicher, Alles zerschmetternder Gewalt, und widerstrebender, trozender Stärke erfüllt, nie drängte sich mir so stark das Gefühl einer zahllosen Reihe verflossner Jahrhunderte auf, nie dämmerte in meiner Seele ein Ahnden unabsehbar ferner, wieder zertrümmernder und wieder schaffender Zukunft! Wenn ich manchmal aus einem engen umschlossnen Thal auf die höchsten unersteiglichen Gipfel der Gebirge rund umher sah, wie sich die Ideen der Einöde, der Einsamkeit, des Bliks in weite Fernen von der schwindelnden Höhe, rege Erwartungen des, was hinter jenen Bergen, über jenen Gipfeln hinaus ist, meiner Seele bemeisterten, wie dadurch alles Nahe, Gegenwärtige, Gewisse in ihr verschwand, und nur das Vergangne, Zukünftige, Entfernte, Ungewisse meine träumende Phantasie umschwebte! O! lieber Forster, wir müssen einmal zusammen eine eigentliche Gebirgsreise machen. Das ist weniger kostbar und weniger langwierig als eine Reise nach England, und muß Ihnen, als Naturforscher, doch auch sehr wichtig sein.

Fußnoten

    1. a |Editor| Gemeint ist Caroline von Lengefeld, die von 1784 bis zur Scheidung im Jahr 1794 mit Friedrich Wilhelm von Beulwitz verheiratet war, bevor sie später in jenem Jahr Wilhelm von Wolzogen heiratete. Vgl. den Brief Humboldts an Caroline von Beulwitz und Caroline von Dacheröden vom 26. Oktober 1789, in dem Humboldt, an Caroline von Beulwitz gerichtet, schreibt: "Ich bringe Dir einen brief und einige papiere von ihm mit." (Mattson 2014, S. 225 [Nr. 93]). [FZ]