Wilhelm von Humboldt an Friedrich August Wolf, 01.12.1792

Auleben, 1. Dec. 1792.

Entschuldigen Sie Sich künftig nicht, theuerster Freund, über verspätete Antworten. Es wäre die größeste Unbescheidenheit von einem Manne von Ihren nothwendigen und selbstgewählten Beschäftigungen zu erwarten, daß Sie auch die Briefe selbst derer, denen Sie, wie ich mir schmeicheln darf, einen Theil Ihrer Freundschaft schenken, mit dem nächsten Posttag beantworten sollten. Ich wiederhole es Ihnen noch einmal, und gerade darum recht dringend, weil ich eine recht feste, ununterbrochne Verbindung – wenn Ihre Güte es mir erlaubte, mit Ihnen zu schließen wünschte, lassen Sie meine Briefe und ihre Beantwortung Ihnen nie beschwerlich werden, aber wenn Sie einen Moment Muße haben, so schenken Sie ihn mir, und glauben Sie sicherlich, daß Sie mir damit auf viele Wochen hin ein angenehmes Geschenk machen. Die wenigen Stunden, die es mir nur vergönnt war, Sie, theurer Freund, in Halle zu sehn, haben Sie meinem Herzen so theuer gemacht, daß die Aussicht von Zeit zu Zeit Ihres mündlichen und schriftlichen Umgangs zu genießen zu den süßesten Hofnungen meines Lebens gehört.

Für die Blätter, die Ihren Brief begleiteten, meinen innigsten Dank. Die Erklärung der Homerischen Stelle hat mich nicht bloß darum gefreut, weil sie mich den Sinn einer mir bisher ganz dunkeln Stelle in dem hellsten Lichte sehn ließ, sondern auch darum ganz vorzüglich, weil sie zu den seltenen gehört, in welchen ein hoher Grad des Scharfsinns so gerade das Natürlichste entdekt. Außerdem hat sie mir über die Verschiedenheit der griechischen und lateinischen Konstruktion eine Belehrung verschaft, die ich sonst überall vergebens gesucht hätte. Ich schikke Ihnen Ihre Blätter (die ich mir integraliter, auch das prächtige Scholion nicht ausgeschlossen, abgeschrieben habe) hiebei zurük. Sollten Sie sie auch zu sonst nichts gebrauchen; so können Sie doch, ohne ein neues Aufschreiben, einem andren eben die Freude, als mir, damit machen. Ich werde es künftig ebenso machen, und dürfte ich ohne Unbescheidenheit eine neue Bitte wagen, so wäre es die, daß Sie mir manchmal, u. je öfter je lieber ein Blatt Ihrer Concepte über diese oder jene Stelle zuschikken wollten, damit es Ihnen gar keine Zeit kostete, ohne Brief und alles. Sie könnten sicher rechnen, es mit nächstem Posttag zurükzuerhalten, und vor anderm Gebrauch sind Sie ja ohnedieß bei mir sicher. Am meisten interessiren mich jezt Homer, Pindar, Herodot, Thucydides und Plato.

Den Aeschylus[a], der wohlbehalten hier angekommen ist, sollen Sie zur bestimmten Zeit gewiß zurükerhalten. Da ich nur die von Schütz noch nicht bearbeiteten Stükke darin lesen will, absoluire ich ihn sehr bequem. Auch versteht sichs von selbst, daß Sie ihn auf den ersten Wink früher und zu jeder Zeit bekommen, und so künftig immer. Um Ihnen doch einige Beweise zu geben, daß Ihre Güte nicht unbenuzt bleibt, lege ich Ihnen einen übersezten Eumenidenchor bei. Die Interpretation desselben ist voller Schwierigkeiten. Ich habe meist, aus Mangel des Besseren, Pauw folgen müssen. An ein Paar Stellen bin ich einem eignen Weg gefolgt. Aber Sie müßten zur Beurtheilung, wenn Sie auch Sich die Mühe geben wollten, den Pauw (den Beck in seinem Pindar – ich weiß nicht, ob es sonst auch üblich ist gar prächtig pauo nennt) selbst vor Augen haben, und ich verspare es also auf ein andermal.

Außerdem habe ich einige Pindarische Oden, unter andern die 4. Pyth. 500 Verse lange übersezt, womit ich Sie aber dießmal verschone.

Jezt lassen Sie mich mit einem Projekte diesen Brief beschließen. Es ist mir sehr wahrscheinlich, daß ich die Weisheit haben werde, meine jezige Lage nicht zu verändern, und wenn dieß geschieht, daß das Alterthum, und vorzüglich das Griechische meine ausschließende Beschäftigung sein wird. Als Philologe von Metier kann ich nicht studiren, das hindert meine einmalige Erziehung und Bildung, und wenn ich gleich jezt nach allen meinen Kräften und Hülfsmitteln nach Gründlichkeit, auch in grammatischen Kleinigkeiten, Metrum, Accenten u. s. w. strebe, so bringt man es doch, wenn man so spät anfängt, nicht weit genug. Hingegen, dünkt mich, hat mich meine Individualität auf einen Gesichtspunkt des Studiums der Alten geführt, der minder gemein ist. Es wird mir schwer werden, mich kurz darüber zu erklären, indeß ist doch das Resultat ohngefähr folgendes: es giebt, außer allen einzelnen Studien und Ausbildungen des Menschen, noch eine ganz eigne, welche gleichsam den ganzen Menschen zusammenknüpft, ihn nicht nur fähiger, stärker, besser von dieser und jener Seite, sondern überhaupt zum größeren und edleren Menschen macht, wozu zugleich Stärke der intellektuellen, Güte der moralischen und Reizbarkeit und Empfänglichkeit der ästhetischen Fähigkeiten gehört. Diese Ausbildung nimmt nach und nach mehr ab, und war in sehr hohem Grade unter den Griechen. Sie nun kann dünkt mich nicht besser befördert werden, als durch das Studium großer und gerade in dieser Rüksicht bewundernswürdiger Menschen, oder um es mit Einem Worte zu sagen durch das Studium der Griechen. Denn ich glaube durch viele Gründe, die ich der Kürze wegen hier übergehen muß, wovon aber einer der vorzüglichsten der ist, daß kein andres Volk zugleich soviel Einfachheit und Natur mit soviel Kultur verband, und keins zugleich soviel ausharrende Energie und Reizbarkeit für jeden Eindruk besaß, ich glaube, sage ich, beweisen zu können, daß nicht bloß vor allen modernen Völkern, sondern auch vor den Römern die Griechen zu diesem Studium taugen. Das Studium der Griechen in dieser Rüksicht also, und die Darstellung ihrer politischen, religiösen und häuslichen Lage in ihrer höchsten Wahrheit wird mich für mich so lange beschäftigen, bis meine Aufmerksamkeit gewaltsam auf etwas andres gelenkt wird, oder ich damit ins Reine gekommen bin, wozu aber, meinen Foderungen an mich nach, schwerlich ein Leben hinreicht. Da man doch nun auch manchmal Lust bekommt, seine Ideen andren mitzutheilen, und diese Behandlungsart der Alten mir überhaupt nicht unwichtig und selbst nicht gewöhnlich scheint – da alle Bücher, die ich in dieser Art kenne, wovon ich nur den Anacharsis nennen will, schlechterdings kein Genüge thun; so denke ich eine Schrift, die ohne ein Journal zu sein, fortliefe, anzufangen, etwa unter dem Titel Hellas, welche allein der griechischen Litteratur gewidmet wäre, und theils Uebersezungen aus allen Arten der Schriftsteller, theils eigene Aufsäze enthielte, die vorzüglich auf die Beförderung jenes erst erwähnten Zweks hinarbeiteten. Eigentliche Gelehrsamkeit würde, wie Sie schon aus der Person des Verfassers schließen werden, nicht zu dem Zwekke gehören, aber eine zwekmäßige Bearbeitung der vorhandnen Materialien, und vorzüglich reine und treue Darstellung der Quellen, die doch nicht bloß dem Nichtkenner, sondern auch dem Halbkenner willkommen ist, und die der Kenner selbst wohl einmal vergleicht. Im ersten Heft würde ich dann vorzüglich den Gesichtspunkt ausführlich zu schildern versuchen, von dem mein Studium der Alten allein ausgeht. Ἀλλὰ ταῦτα ἐν παρασκευαῖς ἐστι. Doch sagen Sie mir wohl gelegentlich Ihre Meinung.

Noch Eins muß ich Ihnen erzählen! Neulich schrieb ich an Hemmerde[b] und forderte den in dieser Ostermesse angekündigten 2. Th. des Reizischen Herodots, den ich, wie Sie wohl am besten wissen werden, nicht erhielt. Bei der Gelegenheit schrieb mir Hemmerde mit großen Lobeserhebungen für Sie auch große Klagen über Sie und versicherte, er sei in Angst u. Sorgen wegen des Mureti variae lectiones. Doch den Herodot, Lieber, geben Sie doch bald. Ich will ihn jezt mit meiner Frau lesen, da ich ihn nach dem Homer für die beste Einführung in die Prose halte, und mich schaudert vor dem bloßen Text ohne alle, auch die geringsten Hülfsmittel.

Meine Frau grüßt Sie und Ihre Frau Gemahlin herzlich und verspricht gewiß den Homer zu lesen den ganzen Tag, wenn Sie es verlangen, wenn Sie nur herkommen wollen. Können Sie nicht in den Osterferien.

Ewig mit der herzlichsten Freundschaft und Achtung
Ihr

Humboldt.

Fußnoten

    1. a |Editor| Laut Mattson 1990, S. 384 zu Brief 3 ist wohl die Aischylos-Ausgabe von Cornelis de Puaw aus dem Jahr 1745 gemeint.
    2. b |Editor| Gemeint ist die Buchhandlung Hemmerde & Schwetschke in Halle, deren Besitzer seit 1788 Carl August Schwetschke war. Wenn Humboldt Antwort von "Hemmerde" erhält, so stammt diese von Schwetschke, denn der vorherige Besitzer, Karl Hermann Hemmerde, war bereits 1782 gestorben.