Wilhelm von Humboldt an Friedrich August Wolf, 23.01.1793
|13r| Auleben, den 23. Jan. 1793.Es ist nicht meine Schuld, theuerster Freund, daß ich Ihren lieben freundschaftlichen Brief vom 6. d. M. der mir eine so herzliche Freude gemacht hat, so spät beantworte. Erst am 18. bekam ich ihn von Rosla, so daß er also wieder 12 Tage unter freiem Himmel herumgeirrt hat, und daß ich seitdem nicht eher schrieb, wird wenigstens die Weitläuftigkeit der Beilage, die ich meiner Antwort mitgebe, entschuldigen. Erschrekken Sie in der That nicht, lieber Freund, über das weitläuftige opus, es ist wider meinen Willen weitläuftiger geworden, als ich selbst anfangs dachte, wie Ihnen die Geschichte desselben gleich sagen soll. Sie wissen, daß ich mich schon lange damit trug, die Ideen niederzuschreiben, die mir das griechische Studium vorzüglich interessant machen. Am größesten wurde diese Lust in mir, als in den glüklichen Tagen, die Sie uns hier schenkten, wir einigemale über die Materie sprachen, Sie mit mir zum Theil übereinstimmten, zum Theil meine Ideen berichtigten, und ich mich vor allem freute, die Wichtigkeit einer ähnlichen Entwikkelung von Ihnen anerkannt zu sehen. Zwar sprachen wir wirklich weniger darüber als anfangs Ihre Absicht schien, und als ich auch ich wünschte, es rührte aber vorzüglich davon her, daß meine Ideen noch nicht genug entwikkelt in mir waren, um, da wir im Allgemeinen übereinstimmten, die Verschiedenheiten der feineren Nüancen gehörig auseinanderzusezen. Nach Ihrer Abreise habe ich oft wieder an den alten Plan gedacht, indeß war ich zu sehr im Zuge des Aeschylus, um mich zu unterbrechen. Ihr lieber theurer Brief wekte indeß meine Lust aufs neue, und es kam die Betrachtung hinzu, daß Sie Ihrem Briefe so |13v| viele mir interessante u. lehrreiche Bemerkungen mitgegeben hatten, daß ich es unmöglich über das Herz bringen konnte meine Antwort ohne alles gehen zu lassen, das wenigstens irgend Ihre Aufmerksamkeit reizen könnte. Ich versuchte also, meine Gedanken so kurz, aber doch zugleich so deutlich aufzuzeichnen, als mir möglich war, und diesen Versuch, die Arbeit zweier Tage, schikke ich Ihnen hier, mein Theurer in der festen Zuversicht auf Ihre nachsichtsvolle Güte, so roh u. unvollständig er ist. Damit er nur nicht auch seinem Aeußern nach gleich roh sei, habe ich ihn abgeschrieben, weil, wenn man sich auch einen schlecht geschriebenen Brief, wie e.g. diesen, hineinquält, es doch sehr verdrießlich ist, sich durch einen längren unleserlichen Aufsaz durchzuarbeiten. Dieß sage ich Ihnen bloß, damit Sie nicht aus dem reinlicheren Aeußern des opusculi schließen, ich hielt es auch nur für gleich gehobelt in Absicht seines Inhalts. Um nun noch von diesem ein Paar Worte hinzuzufügen, so ist es, wie Sie sehen ein bloßes Gerippe, *woraus allenfalls künftig eine eigne wirkliche Abhandlung entstehen könnte. Es fehlen daher nicht allein sehr oft die ausführenden, und eigentlich beweisenden Säze, sondern auch in den Schlüssen manchmal nicht ganz leichte Mittelsäze. Es ist dieß freilich um so schlimmer, da der Gegenstand gar nicht von der Art ist, um bequem in Aphorismen vorgetragen zu werden, sondern vielmehr gar sehr der Ausführung, vorzüglich auch durch historische Beweise bedarf, wenn er die gehörige Wirkung thun soll. Aber ich konnte einmal jezt nicht anders. Denn außerdem daß aus diesen Bogen bei einem andern Zuschnitt ein wirkliches Buch hätte werden müssen; so besize ich auch jezt gar noch nicht die zu einer wahren Ausführung erforderlichen Kenntnisse. Es ist mir schon mehrmalen so gegangen, daß ich, wenn ich in ein neues Fach trete, u. allenfalls die Außenlinien übersehe, mich dieser Anblik dergestalt begeistert, daß ich mit zu reden anfange, als wäre ich längst darin gewesen. Nur Schade daß der Zuhörer des Irrthums bald gewahr wird. Hier nun z.B. bin ich erstlich moralisch im Voraus gewiß viele historische Data zu übersehen, fürchte ich zweitens manche aus einem falschen Gesichtspunkte anzusehen, und fühle ich drittens, daß ich Mehre-|14r|res, was ich auch für völlig wahr halte, nur aus einem gewissen noch dunklern Gefühl habe, und daß mir die wahren beweisenden Data noch fehlen. Vorzüglich habe ich gerade fast bloß Dichter, einzelne Stükke aus Historikern und den Plato gelesen, also lauter Schriftsteller die sehr zu einer idealischen Vorstellung führen. Die welche davon das Gegentheil thäten, z.B. Aristophanes fehlen mir noch ganz. Es ist daher auch ganz und gar meine Absicht nicht, jezt, oder bald, od: nur in d. nächsten Jahren diese Aphorismen ordentlich auszuarbeiten. Sie sollen mir nur dazu dienen, mir bestimmt u. vollständig meine jezigen Ideen darzustellen, damit ich meine zunehmenden Kenntnisse damit vergleichen, u. sie nach u. nach berichtigen kann. Es kann dieß, meiner Art zu schreiben nach, um so eher geschehen, als ich gerade nur solange rechtrer <recht von> Ideen überzeugt bin, als ich sie im Kopfe trage, hingegen gleich zweifelhaft werde, sobald sie nur auf dem Papiere stehen. Wollten Sie mir nun, liebster Freund, bei dieser Prüfung und Sichtung behülflich sein, so erzeigten Sie mir dadurch einen in der That überaus großen und wichtigen Dienst.[1] Bis zum 17 §. glaube ich, werden Sie mit mir einstimmiger sein. ** Diese Säze enthalten mehr die eigentlich philosophischen Prämissen, die ich nicht so weitläuftig ausgeführt haben würde, wenn ich nicht bei größerer Kürze für die Klarheit gefürchtet hätte. Zwar kann es leicht sein, daß Sie den Gang nicht billigen, den ich genommen, aber das ist an sich unwesentlicher. Daß der Endzwek des Studiums des Alterthums Kenntniß der Menschheit im Alterthum ist, sind Ihre eignen Worte, u. daß diese Kenntniß, neben andrem Nuzen, den sie stiftet, u. den ich in dem ersten §. abgesondert, auch ganz besonders zur Bildung des schönen menschlichen Charakters beiträgt, daran zweifeln Sie gewiß nicht. Von §. 18. an aber bis zu Ende sind es meist historische Säze, oder das Raisonnement ist doch mit solchen gemischt. Um nun da Ihre Zeit so viel als möglich zu schonen – die ich warlich auch aus eigennüzigen Absichten so sehr ehre – wünschte ich, Sie schrieben bloß richtig oder falsch oder perpende dazu, und wollten Sie noch mehr thun so fügten Sie allenfalls ein Geschichtsdatum hinzu, das mich widerlegte, oder einen Autor, der mich auf einen andren Gesichtspunkt führen |14v| würde. Da der ganze Aufsaz allein dazu dienen soll, die Ideen bei künftigem fortwährenden Studium nur zu prüfen, so ist mir in der That auch die Belehrung am liebsten, die mir bloß zu zw zweifeln, u. weiter nachzuforschen befiehlt. Was ich von Uebersezungen sage (§. 42.[a]) werden Sie keine Trostgründe für einen angehenden Uebersezer nennen, und in der That ists eine undankbare, u. doch so saure Arbeit. Allein bei mir entsteht alle Lust zu übersezen aus wahrhaft enthusiastischer Liebe für das Original, u. so wie mir es der unerträglichste Gedanke wäre so zu übersezen, daß man das Original darum weniger läse, so ist mir in Wahrheit der der liebste, daß man meine Uebersezung wegwerfe um jenes in die Hand zu nehmen. Der Uebersezer ist allemal in der Gruppe nur die Nebenfigur und er hat das Höchste gethan, wenn * die Hauptfigur durch ihn mehr hervorspringt. Diese Einfälle denke ich in der Vorrede zum Menexenus noch mehr auszuführen. Doch genug von meiner Beilage.
Für die Aeschyleischen Emendationen meinen herzlichsten Dank. Sie scheinen mir alle richtig und nur etwa die von Scaliger Suppl. 886.[b] zweifelhaft, ob ich gleich nichts Bessres vorzuschlagen wüßte. Am wichtigsten dünkt mich die Choeph. 938. von Matthiae und die erste Valkenaerische Choeph. 530. Nur hat Pauw schon, wie ich eben sehe gerade so emendirt u. interpretirt.
Noch herzlicher aber danke ich Ihnen für die Herodoteischen. Ich finde meine Zweifel alle vollkommen befriedigend aufgelöst, und die Offenherzigkeit Ihres Geständnisses Ihrer Unwissenheit in der Ziegeldekkerei hat mich sehr belustigt. Das Papier über d. Herodot schikke ich Ihnen nicht zurük, da es mir nicht Ihre Meinung scheint. Was Sie mir von Ihren Papieren gesagt haben, muß es auch leicht bei mir gleich sicher aufgehoben sein. p. 5. oben haben Sie wohl bei Ihrer Emend. ἐπὶ πεντεκαίδεκα γενεάς hist. Gründe, die ich einmal aus Larcher sehe oder sonst wo einsehe. c. 41. l. 16. wo sie <Sie> πρὸς δὲ, ἐς τοῦτο καὶ σέ in πρὸς δὲ τούτῳ καὶ σέ ändern hätte ich keinen Fehler vermuthet, da mir ἐς τοῦτο und ἒνθα einander zu respondiren schienen. Indeß submittire ich natürlich, wenn Sie die vulg. für gar nicht od: minder griechisch halten. Weil Sie es verlangten schikke ich Ihnen wieder eine Anzahl mir dunkler Stellen. Um Ihre Zeit zu sparen habe ich nur die wichtigsten ausgewählt und bloß die |15r| Worte, die mir dunkel sind aufgemerkt. Sollten Sie irgendwo über die Schwierigkeit zweifelhaft sein die ich gefunden hätte; so bitte ich Sie nur bloß eine Uebersezung beizufügen. Diese Bitte, mein Theurer, thue ich unsrer neulichen Verabredung zufolge. Sonst aber hätte ich Ihnen einen andren Vorschlag zu machen, den Sie, denke ich, wohl annehmen. Sie beschäftigen Sich doch jezt nicht ex professo mit dem Herodotus, und es kostet Ihnen daher wirklich verlorene Zeit, wenn Sie ihn auch mir zu Liebe nur durchblättern. Auch ist es natürlich, daß entblößt von allen Hülfsmitteln, wie ich bin, mir Schwierigkeiten aufstoßen, die ich durch den Larcher oder Portus[c] leicht selbst heben könnte, und entsezlich wäre es doch, wenn Sie mein Armer meinen Büchermangel entgelten sollten. Meine Absicht beim Herodotus ist jezt zwiefach. Einmal ihn mit meiner Frau zu lesen. Dieß kann ich immer mit Nuzen, wenn ich gleich manchmal sagen muß: dieß verstehe ich nicht. Denn da ich sehr behutsam bin, wird es nur äußerst selten sein, daß ich Sie <sie> etwas falsches lehre. Ich lasse lieber mein οὐκ οἶδα[d] erschallen. Dann ihn vorläufig für mich zu lesen. Dieß halte ich von Nuzen. Man wird mit der Manier, den Wendungen, Redensarten des Autors bekannt, und braucht dem Interpreten nicht soviel aufs Wort zu glauben, wie doch sonst in den ersten Büchern nicht fehlen kann. Endlich prüft und übt das Lesen ohne Kommentar, wie Sie auch in Ihrer Vorrede ad Odysseum[e] sagen. Aus diesen Gründen ist es mir nicht so peinlich auch über mehrere Stellen ungewiß zu sein. Ich zeichne sie auf, sehe sie von Zeit zu Zeit an, streiche aus, die ich dann verstehe, und erwarte für die übrigen eine andre Zeit. Sobald ich nun jezt mit dem Aeschylus, Uebersezen des Menexenus und der Rede des Thucydides[f], und dem Pindar (i. e. dem Durchlesen der mir noch übrigen Hälfte) fertig bin, also etwa diesen Herbst kaufe ich mir den Larcher (was ich jezt bloß darum nicht thue, weil ich jezt nicht soviel Zeit auf den Herodotus wenden mag, und weil jene oben gesagten Gründe mir wichtig sind)|.| Ich lese ihn dann von neuem, vergleiche den ganzen Larcher genau, und schreibe gleich genau auf, wo mir Larcher noch Zweifel gelassen hat, wo ich ihn unrichtig glaube u.s.w. und dehne meine Aufmerksamkeit dann vorzüglich auch auf die Chronologie aus, wozu ich jezt die data sammle. Auf diese Weise hielte ich es daher nun am gerathensten, ich beschwerte Sie jezt nicht mit Fragen, theilte Ihnen aber alsdann alle meine Resultate dieser vollständigen Lektüre mit. Genehmigen Sie diesen Plan: so erwarte ich also auch keine Antwort auf den hier beigelegten Zettel und bitte Sie um diese nur auf die Eine angestrichene Stelle c. 86. weil dort etwas ist, das vielleicht einer Pin-|15v|darischen Licht gäbe. Auf alle Fälle aber bitte ich Sie, wo Larcher Licht giebt, ihn nur trokken weg mit einem L. zu citiren. Sie müssen in der That Ihre Zeit schonen, theurer Freund, und Sich Ihre Freundschaft nicht verführen lassen.
Auf die Lehre der temporum habe ich nicht versäumt Acht zu geben. Herodotus I. 80. l. 24. 25. τῳ kommt ein paullo post fut. vor. Die Stelle heißt τῷ (scil. ἱππικῷ) δή τι καὶ επεῖχε ἐλλάμψεσθαι ὁ Λυδός. Dieß verstehe ich: „wodurch der Lydier glaubte od: vertraute, daß er glänzen werde.” So wäre es also, dächte ich die zukünftige Zeit der noch anzufangenden Handlung und zwar in significat. media. Sagten Sie mir aber nicht, daß Sie das p. p. fut. für das passiuum der zukünftigen Zeit der vollendeten Handlung hielten? Sie verbänden mich sehr, wenn Sie mir hierauf antworteten. Vielleicht ist dieß tempus auch im Herodotus noch ebensowenig in einer der nachherigen bestimmten Bedeutung, als im Homer. Her. I. 112. l. 15. kommt ein Beispiel des fut. der vollendeten Handlung βεβουλευμένα ἔσται vor. Hätte ich Sie recht verstanden (aber ich habe Sie vielleicht sehr misverstanden) so müßte da auch ebensogut ein p. p. f. (wenn es nemlich gebräuchlich ist) βεβουλεύσεται stehen können. Her. I. 120. l. 7. accentuirt Reitz ἔστί τε. Dieß ist ja, dächte ich, nach derselben Regel nach der *** einige ἄνδρά μοι u.s.w. schreiben. Ich merke es an, weil Sie, wenn ich mich recht erinnere, zweifelten, was Reitz in solchen Fällen für einer Meinung folge.
Nun, lieber Freund, damit Sie sehen, daß ich Ihre Zeit auch nicht zu sehr schone, sobald es nur Schriftsteller betrift, die Ihnen gerade nahe liegen, noch ein Paar Homerische Stellen. Il. XII. v. 399. πολέεσσι δὲ θῆκε κέλευθον. Aus Köppen sehe ich, daß Sie τεῦχε lesen.[g] Ich vermuthe aus dem Grunde warum auch Il. I. 2. das ἔθῆκε anstößig ist. Aber v. 411. u. 418. steht θέσθαι. Ist da nicht dieselbe Schwierigkeit, oder macht es einen Unterschied, daß hier das med. steht? Il. XIII. v. 119. περὶ κῆρι wohl πέρι κῆρι wie Sie mir auch, dünkt mich, schon sagten. Il. XIII. 237. sagt Köppen daß ἀρετὴ ergänzt werden soll,[h] und freilich weiß ich nichts andres. Aber bleibts nicht immer hart? Il. XIII. 585. ist απὸ νευρῃφιν mit dem Dat. doch gar zu sonderbar. φιν wird aber auch zu gen. gesezt v. gr.[i] Ερέβευσφιν. Könnte man nicht νευρησ’φιν lesen oder nicht νευρηφιν mit ausgelassenem σ der gen. sein. Freilich sind das aber wohl monstra verborum, die nirgend vorkommen. Zum Schluß noch der Poseidon γαιήοχος. Dieß übersezt Voß immer Erdumgürter. Köppen aber erklärt es nach Art des πολισσοῦχος und führt an, daß beim Sophocles der Artemis dieß Epitheton gegeben wird, und ich selbst fand es neulich vom Jupiter im Aeschylus. Was ist denn hier richtig?
Schneiders Versuch über Pindar habe ich durch Keyser in Erfurt bekom-|16r|men. Ich habe Ihnen noch ein Exemplar verschrieben, und kriegte ich es nicht, so gehört Ihnen so auf alle Fälle das meinige. A Es ist in einem geschrobenen affektirten Style geschrieben, aber übrigens ein wahrhaft trefliches Produkt. Noch hat mir kein Ausleger des Pindar so Genüge gethan, als Schneider, und die wenigen Stellen, die er erklärt, sind in einer äußerst schönen Manier. Es sind gar nicht eben die schwersten. Aber seltsame Wendungen, Tropen, die er durch B mehr Belesenheit, als die andern Herren dazu bringen, äußerst schön erklärt. Aber über den Versbau macht er mich aufs neue ganz verwirrt. Hören Sie nur! Nachdem er d ein Fragment aus dem Dionysius citirt hat fährt er fort: „ich habe den Gr. Text nach seinen natürl. Gliedern geordnet, nicht nach der künstl. Form, in welche Aristoph. oder ein andrer Silbenmesser die pind. Oden mit Gewalt gezwängt hat. Diese Abtheilungen halte ich für eine pedantische Grille, welche den Wohlklang und Rhythmus der Komposition zernichtet, und den Begriffen eines gesunden Menschenverstandes zuwiderläuft. Sollte auch, was ich mir aber keineswegs einbilden kann diese Abmessung der Silben u. Verstümmelung der Glieder mehr zum Behufe des Gesanges erdacht worden sein, als um die müssige Zeit eines hirnlosen Kopfs zu beschäftigen, wozu behält man sie noch jezo bei, da wir Pindars Poesie nicht mehr singen u.s.f.” Wie hirnlos muß nun der sein, lieber Freund, der diese Silbenmaaße, die Schn. weiterhin mit dem eisernen Bett des Procrustes vergleicht, ins Deutsche übertragen will. Ich freue mich ordentlich, daß ich in so glüklicher Unwissenheit die ersten Oden übersezt habe; sonst hätten mich die Schwierigkeiten genug <gewiß> zurükgeschrekt. Indeß bin ich doch jezt fest entschlossen, mit eignen Augen zu sehen, soviel sich jezt noch über Pindars Musik und Versbau sehen läßt, u. danach meine Uebersezung soviel ich kann, zu formen. Bis ich das weiß, will ich nicht übersezen, und fällt mich die Wuth zu rasend an, so sollens die Chöre entgelten, und zu Vorübungen dienen. Gegen Schn. Raisonnement aber habe ich manche Zweifel. Ein bestimmter Silbenfall ist offenbar im Pindar. Dieser muß nothwendig seine Cola haben, und nun soll er mir zeigen, wie diese herauszubringen sind, ohne auch sehr nah verbundne Redetheile, oder gar Wörter zu theilen. Dazu kommt nun, daß nicht bloß nach Grillen der Grammatiker, sondern nach dem Gefühl des feiner gebildeten Ohres gewisse Füße unverträglich mit einander sind, und man sie also nicht zusammenbringen darf. Man versuche nur im Deutschen völlig freie Verse, wie einige Klopstokkische Oden und die Vossische Uebers. d. 1. Pyth. zu machen. Man wird |16v| sich oft gedrungen fühlen, ohne Rüksicht auf den Sinn ein Colon zu schließen. Ueberdieß müßte ja dann dieselbe Verwirrung in den Chören herrschen. Uebrigens aber nimmt Schn. so sehr an, daß auch unsre jezigen Pindarschen Oden gesungen wurden, daß er nicht einmal eine besondre Beweisstelle dafür anführt.
Nun, mein Theurer, werden Sie des Geplauders wohl genug haben. Ich soll nicht Ihres Hierseins erwähnen. Ich darf Ihnen also nicht für die glüklichen Tage danken, die Sie uns machten, Ihnen nicht sagen, wie wir Sie vermissen, Sie nicht bitten, noch einmal Auleben wiederzusehn, ehe wir es verlassen?
Meine Frau dankt Ihnen sehr für das niedliche Geschenk, und noch mehr für Ihren freundschaftlichen Brief. Sie schriebe Ihnen schon selbst heute, wenn nicht die Kleine ihr so wenig Zeit ließe. Sie trägt mir auf, Sie herzlich zu grüßen, Ihnen noch einmal recht innig für die Freude zu danken, die Ihre Anwesenheit auch ihr machte, und Sie um Verzeihung zu bitten, wenn sie I ihre Antwort noch aufschieben muß.
Die Bücher erwarte ich noch diese Woche, nach dem, was Sie mir schreiben. Wenn dieser Brief spät ankommt, so wundern Sie Sich nicht. Ich muß ihn, da ich die Posttage nicht weiß, auf gut Glük nach Rosla schikken. Jezt aber werde ich mich danach erkundigen.
Empfehlen Sie uns herzlich Ihrer Frau Gemahlin und bitten Sie sie in unserm Namen, Ihnen bald wieder eine Kur anzurathen.
Nun leben Sie wohl, theurer unvergeßlicher Freund, und behalten Sie lieb Ihren Ihnenganz eignen,
Humboldt.
Wie steht es mit dem Menon? Ich bitte sehr für ihn.
Ich habe mir schon ein Mittel ausgedacht, wenn ich Ihr Mscrt. bekomme. Ehe es geschieht, oder sobald ich es habe, lese
ich den Menon bloß für mich, ohne dasselbe anzusehn
durch u. mache meine Zeichen zu den Stellen. So erreichen Sie, dächte ich,
am ersten 3 Ihrer 4 Absichten. Denn die des Bemerkens einer Unrichtigkeit in
Ihren Noten lasse ich nicht gelten. Es bleibt also nur für mich auf das zu
sehen übrig, was zu viel oder zu wenig oder undeutlich ** in meinen Augen ist.
Fußnoten
- 1 |WvH| Meinen Aufsaz, Lieber, hätte ich gern in einigen Wochen zurük. Ich habe nichts als ein brouillon in halben Hieroglyphen davon.
- a |Editor| Die Ziffer „42“ wurde unterstrichen und links am Rand von anderer Hand „40“ eingefügt (laut Mattson 2015, 376 stammt dies von Wilhelm Körte). Siehe jedoch §. 42 in Humboldts Text über "Uebersezungen" (GS I, S. 280).
- b |Editor| Nicht auszumachen.
- c |Editor| Gemeint ist wohl das zuerst 1603 erschienene Λεξικόν ἰωνικόν ἑλληνοῤῥωμικόν von Aemilius Portus. Humboldt besaß eine Neuausgabe aus dem Jahr 1818, erschienen in Oxford bei Parker (s. Schwarz 1993, S. 29 Nr. 177). [FZ]
- d |Editor| D.h.: ich weiß nicht.
- e |Editor| Es müsste heißen "ad Odysseam".
- f |Editor| Gemeint ist die von Thukydides (hist. 2, 35–46) überlieferte Leichenrede des Perikles auf die Gefallenen des ersten Jahres des Peloponnesischen Krieges.
- g |Editor| Köppen, Anmerkungen, Bd. 3, 1790, S. 329. [FZ]
- h |Editor| Köppen, Anmerkungen, Bd. 4, 1791, S. 53. [FZ]
- i |Editor| D. h. „verbi gratia“.