Wilhelm von Humboldt an Johann Wolfgang von Goethe, 24.11.1796
|1*|Erfurt, 24. 9br. 1796.Wie ich gestern hier ankam, fand ich Herr von Wollzogen |sic| nicht hier. Geschäfte haben ihn abgehalten, seine Frau selbst abzuholen, und er bittet sie nunmehr allein dorthin zu kommen. Auf diesen Fall hatte ich schon vorläufig versprochen, sie bis Meinungen |sic| zu begleiten, u. so reise ich mit ihr morgen dahin ab u. werde erst Sonntag früh wieder hier seyn können. Dieß verspätet nun zugleich meine ganze Rückreise nach Jena, so daß es mir nicht möglich seyn wird, früher als Dienstag in Weimar u. Mittwoch in Jena zu seyn.
Ich bin deshalb so frei, liebster Freund, Sie zu fragen, ob wir Ihre gütige Einladung zum Sonnabend wohl zum Dienstag Mittag verlegen dürfen? Meine Frau, die Sie auf das freundlichste grüßt, freut sich unendlich der Aussicht, Sie dann wiederzusehn, und Herr von |2*| Burgsdorff Ihre erste Bekanntschaft zu machen. Wir alle erwarten mit doppelter Ungeduld den Dienstag, da Sie mir Hofnung machten, uns auch Ihr neuestes Product hören zu lassen.
Körners Brief über Ihren Meister, den Schiller Ihnen, soviel ich weiß, mitgetheilt hat, habe ich hier gelesen.[a] Er scheint mir zu den seltnen geistvollen Beurtheilungen zu gehören, die Hauptansicht des Werks ist, dünkt mich, sehr richtig gefaßt. Aber in einigen einzelnen Punkten kann ich nicht seiner Meynung seyn, am wenigsten über Meisters Charakter selbst. Er scheint in ihm einen Gehalt zu finden, mit dem die Oekonomie des Ganzen, wie ich glaube, nicht würde bestehn können, u. dagegen hat er, wie mich dünkt, seine durchgängige Bestimmbarkeit, ohne fast alle wirkliche Bestimmung, sein beständiges Streben nach allen Seiten hin, ohne entschiedene natürliche Kraft nach Einer, seine unaufhörliche Neigung zu Raisonniren, u. seine Lauigkeit, wenn ich nicht Kälte sagen soll, der Empfindung, ohne die sein |3*| Betragen nach Marianens u. Mignons Tode nicht begreiflich seyn würde, nicht genug getroffen. Und doch sind wohl diese Züge gerade für den R ganzen Roman von der größesten Wichtigkeit. Denn sie sind es, die ihn zu einem Punkte machen, um den sich eine Menge von Gestalten versammlen müssen, die ihn zu einem Menschen werden lassen, der ewig Knoten schürzt, ohne fast je einen durch eigne Kraft zu lösen. Das aber ist eigentlich, meiner Ansicht nach, das hohe Verdienst, das den Meister zu einem einzigen Werk unter allen seinen Mitbrüdern macht, daß er die Welt u. das Leben ganz wie es ist, völlig unabhängig von einer einzelnen Individualität, u. eben dadurch offen für jede Individualität schildert. In allen übrigen auch den Meisterwerken dieser Gattung trägt alles durch Aehnlichkeit oder Contrast den Charakter der Hauptperson. Im Meister ist Alles u. für Alle u. doch jedes Einzelne u. das Ganze für den Verstand und die Phantasie durchaus bestimmt. Darum wird auch jeder Mensch im Meister seine Lehrjahre wiederfinden. Auch für <in> ganz andren Situationen, als der Meister schildert, wird er das |4*| Leben genießen u. benutzen lehren. Denn es sind nicht einzelne Exempel u. Fälle, es ist die ganze Kunst u. Weisheit selbst poetisch dargestellt, der Dichter, um völlig bestimmt zu seyn, nöthigt den Leser diese Weisheit sich selbst zu schaffen, u. das Product in dieser letztern hat nun keine andern Gränzen, als die seiner eigenen Fähigkeit. Der Meister wirkt im höchsten Verstande productiv aufs Leben. Es ist schlimm, daß der Titel der Lehrjahre von einigen nicht genug beachtet, von andern misverstanden wird. Die letzteren halten darum das Werk nicht für vollendet. Und allerdings ist es das nicht, wenn <M.> Lehrjahre, M. völlige Ausbildung, Erziehung heißen sollte. Die wahren Lehrjahre sind geändert geendigt, der Meister hat nun die Kunst des Lebens inne, er hat nun begriffen, daß man um etwas zu haben, Eins ergreifen u. das andre dem aufopfern muß. Und was heißt Kunst zu leben anders, als der Verstand das Eine zu wählen, und der Charakter ihm das Uebrige aufzuopfern? –
Aber ich habe das ganze Blatt beschrieben, da ich Ihnen nur unsern veränderten Reiseplan sagen wollte. Verzeihen Sie es mir, liebster Freund, u. im Fall Ihnen Dienstag Mittag nicht genehm seyn sollte, so seyn Sie so gütig es mich wissen zu lassen. Hören wir nichts, so kommen wir.
H.
Fußnoten
- a |Editor| Der Brief Körners an Goethe vom 5. November 1796 wurde von Schiller in den Horen, 1796, 12. Stück, S. 105–116 abgedruckt. [FZ]