Wilhelm von Humboldt an Christian Lassen, 10.11.1830

Ew. Wohlgeboren haben mir durch Ihren gütigen Brief von 4.t huj. eine recht große Freude gemacht, und ich benutze sogleich die Gelegenheit, welcher er mir verschafft, Ihnen noch einmal unmittelbar selbst zu sagen, wie wichtig ich die Aufschlüsse halte, welche Ihre Abhandlung in sich faßt und welche Hoffnungen zu noch bedeutenderen Aufklärungen ich auf dieselbe gründe. Was Ew: Wohlgeboren von dem Misverhältnisse des Umfangs der speciellen Kenntnisse zu dem Aussprechen allgemeiner Behauptungen sagen, ist mir wie aus der Seele geschrieben. Man muß freilich sich vorläufig gewisse Punkte bestimmen, um nicht bey dem Speciellen sich, wie in einem Irrgarten, zu verlieren. Ich habe dies früh sogar öffentlich gethan, und es reut mich noch jetzt nicht. Allein nun bleibe ich noch eine gute Zeitlang beym Speciellen, und habe mir wenigstens einen bestimmten Kreis vorgeschrieben, vor dessen Ausfüllung ich nichts Allgemeines wagen werde. Mein Weg geht seit länger als einem Jahre vom Chinesischen durch die Indo-Chi-Chinesischen |sic| und Malayischen Sprachen zum Sanskrit. Ich sehe dies nicht als eine historische Folge an, allein es ist eine offenbare Steigerung von dem einfachsten zum reichsten grammatischen Bau, und dies ist wichtig zu verfolgen. Ueberhaupt bin ich überzeugt, daß es durchaus unstatthaft ist, mit bloßer Kenntniß des Sanskrits und der Semitischen Sprachen über die Sprachen auch nur des mittägigen Asiens urtheilen zu wollen. Wir behandeln bisher das Sanskrit viel zu sehr, als eine Europäische Sprache und vernachläßigen seine Asiatischen  Verzweigungen

Was Ew: Wohlgeboren mir über das Anfügungs Sistem |sic| schreiben, kommt mit einer Meinung überein, die Herr Heyse, welcher die Sprachen fast nur a priori behandelt, vor länger als einem Jahre in den hiesigen Jahrbüchern aufgestellt hat, nemlich daß die Verbalendungen nicht von dem Pronomen, sondern umgekehrt herkommen. Ich gestehe daß ich mich in dieser Ansicht nicht finden kann, wenn man sie nicht ganz besonders modificirt. Auf keinen Fall läßt sie sich allgemein anwenden. Denn es giebt ja viele Sprachen, die gar keine Verbalendungen kennen, und andere, welche nur das regierte Pronomen anhängen, das regierende aber immer allein stehen lassen. Indeß nähern sich Ew: Wohlgeboren schon sehr dem Anfügungssistem, wenn Sie doch überhaupt Pronominallaute in den Verbalendungen anerkennen.

In einigen Punkten Ihrer Abhandlung, besonders in einigen geäußerten Vermuthungen, habe ich Ihrer Meinung nicht beistimmen können. Es ist nur so schwer, sich über so etwas schriftlich zu verständigen. Haben wir denn nicht einmal die Hoffnung, Sie auf einige Zeit bey uns zu sehen?

Es ist mir sehr angenehm gewesen, von Ihnen selbst zu hören, daß Ihre Abhandlung nicht hat feindselig gegen Herrn Bopp sein sollen. In der That ist sie das auch nicht. Da aber Ew: Wohlgeboren einmal dieses Punktes erwähnen, so kann ich nicht umhin, Ihnen freimüthig zu sagen, daß ich sehr bedauert habe, darin einige beißend scherzhafte, ja eigentlich spöttische Aeußerungen gefunden zu haben. Ich führe die über die Latinitaet und über die Bemühung, überall das Verbum seyn zu suchen, als Beispiele an. Ich kann diesen Ton nicht billigen, und er hat in Ihrer Abhandlung ein um somehr |sic| sonderbares Ansehen, als Ew: Wohlgeboren in den Hauptansichten der Boppischen Grammatik, und gerade in denen, auf welchem der hohe Werth, welcher dem Werke wird nie bestritten werden können, vorzüglich beruht, einverstanden sind. Sie sind das in einigen, die mir noch gar nicht, so ausgemacht erscheinen. Bey dieser Uebereinstimmung, bey dieser wirklichen Anerkennung des persönlichen Verdienstes des Verfassers erwartet man nun nicht, bey den weniger bedeutenden Punkten einen Ton, der doch auch mich, so wenig übelnehmerisch ich doch auch von Natur bin, verletzt haben würde.

Eben so wenig kann ich die Schlusäußerung |sic| billigen, daß Herr Bopp nicht gehörig zu seinem Werke ausgerüstet gewesen sey. In dem höchsten Sinne ist es allerdings wahr; wer aber von uns ist es in diesem Sinne! wer dagegen diese Aeußerung abgerissen und ohne Sachkenntniß hört, nimmt dieselbe so als wenn man im gewöhnlichen Sinne jemanden für unreif erklärt. Nun aber, wenn Ew: Wohlgeboren sich aufrichtig fragen, würden Sie gewiß selbst nicht wünschen, daß Herr Bopp das Schreiben seiner Grammatik um soviele Jahre, als er bedurft hätte, ganz ausgerüstet zu sein, aufgeschoben, oder wenn ihm jenes Studium nicht zusagte, ganz aufgegeben hätte.

Da Ew: Wohlgeboren ausdrücklich in Ihrem Briefe an mich Herrn Bopps gedenken, so müssen Sie auch mir zu gute halten, wenn ich denselben nicht unberührt lassen konnte. Ich wollte eigentlich dadurch auf etwas Wichtigeres kommen, Ew: Wohlgeboren und Herr Bopp sind offenbar durch Ihre Anlagen und Ihre Studien im Stande von dem Punkten |sic| aus, welche Sie beide beschäftigen, eine wahre Reform in dem Sprachstudium hervor zu bringen und dessen Grenzen ungewöhnlich zu erweitern. Sie haben sich jetzt durch Ihre Abhandlung so gestellt, daß Ihre beiderseitigen Arbeiten gerade indem Sie verschiedene Wege gehen, ineinander eingreifen können. Lassen Sie also von jetzt an, ich sage nicht alles feindselige, aber auch alles herausfordernde gänzlich fahren, und verfolgen Sie den Weg, durch factische Untersuchung des früheren Zustandes der Sprache die ohne solche Untersuchung gemachten Erklärungen zu wiederlegen |sic| oder zu bestätigen, und besonders, wie schon Ihre Abhandlung vielfach thut, Neues und Eigenes ans Licht zu fördern. Sehr wünschenswerth wäre es, etwas Zusammenhängendes über die Grammatik der Vedas zusammen zu stellen.

Ich hege um somehr diesen Wunsch, als ich mich gerade in diesen Tagen sehr viel mit Ihrer Schrift über das Pali beschäftigt habe. Ich will nehmlich, da ich in der Akademie lesen muß, über die Kavi-Sprache schreiben, zu welcher mich mein seit lange fortgesetztes Studium aller Malayischen Sprachen geführt hat.

Verzeihen Ew: Wohlgeboren die Länge dieses Briefes und empfangen Sie die Versicherung meiner herzlichen und ausgezeichneten Hochachtung.
|Humboldt| Humboldt
|Schreiber| Tegel den 10.t November 1830.
An Herrn Dr. Lassen Wohlgeboren
in Bonn.