Wilhelm von Humboldt an Franz Bopp, 26.04.1822

Ich bin während des letzten Winters so gewohnt geworden, mich mit Ew. Wohlgeb. über unsere gemeinschaftlichen Studien zu unterhalten, daß ich mir die Freude nicht versagen kann, es auch von hier aus zu thun, u. auf Ihre Nachsicht dabei rechnen zu können mir schmeichle.

Ich treibe das Sanskritstudium mit großem Eifer fort, u. es fällt nicht leicht ein Tag aus, an dem ich nicht lese. Es geht mit dem Ramayana, wie Sie mir voraus sagten, viel besser, als mit dem schwierigen Hitopadesa. Ich fühle mich wie in einem leichten Elemente dagegen. Sehr Vieles verstehe ich ohne die Uebersetzung, oft ganze Seiten, nach eingesehener Uebersetzung bleibt mir wenig dunkel, u. manchmal bilde ich mir ein, daß die Uebersetzung Unrecht hat. Ich mache beim Lesen immer selbst eine ins Deutsche, u. merke mir die Schwierigkeiten in Sinn u. Formenanalyse an. Dies hält mich zwar sehr auf, doch werde ich es wohl noch einige Zeit fortsetzen. Es nöthigt doch mehr, sich bestimmte Rechenschaft zu geben. Ich bin im 3. Abschnitt. Was ich bis jetzt gelesen habe, erreicht bei weitem die Schönheit des Nalus nicht. Vorzüglich ist die Slokenerfindung bei den Kap. über die Reihen[a] keine sehr sinnreiche Dichtung.

Zugleich lese ich den Nalus ganz statarisch, was mir sehr wohl thut. Ew. Wohlgeb. haben wirklich mit dieser Ausgabe dem Sanskritstudium einen ungleich größeren Dienst erwiesen, als Sie vielleicht selbst glauben.

Da Sie mir erlauben, Ihnen Schwierigkeiten mitzutheilen, so nehme ich mir die Freiheit Ihnen einige Bemerkungen über Stellen vorzulegen, die wieder das gerundium, oder sogenannte part. indeclinabile betreffen.

Unsre bisherige Theorie über diese Form ist doch die, daß sich kein Subjekt auf sie bezieht, sondern daß sie zwischen zwei Commata gestellt werden könnte, u. der Nominat. oder Instrum. (da es gewöhnlich diese beiden Casus sind) der neben ihr steht, ein folgendes Verbum findet, mit dem er zusammenhängt. Ich theilte Ew. Wohlgeb. zwei Stellen im Hitopadesa mit, in denen es mir anders schien. Allein die eine beruhte auf einer falschen Lesart, die andere ließ sich richtiger construiren, als ich gethan hatte. Jetzt finde ich zwei ähnliche Stellen, eine im Nalus, u. die andre im Ramayana.

Die im Nalus ist V. sl. 34. das letzte Wort von 34. a.  {kṛtāṃjaliḥ} kann hier nur mit {abhinandya} zusammen construirt werden, denn der ganze Vers steht absolut, da im folgenden ein Dualis, mithin ein ganz anderes Subject folgt. Ew. Wohlgeb. übersetzen auch vollkommen so. Verhält sich das wirklich so, so ist die Erklärung durch eine Gerundivform in der That nicht zu machen. Da eben diese Stelle Ew. Wohlgeb. sehr bekannt seyn muß, so ist mir schon eingefallen, ob denn das oben erwähnte Wort wirklich das sogenannte part. indeclin. ist? Zweifelsgründe habe ich allerdings. Die Wurzel ist {nadi} u. das {i} ist hier radical. Das {i} gehört doch wohl nur den Grammatikern an. Ueberhaupt ist Wilkins bei Erklärung des part. indeclin.  {ya} sehr unvollständig. Man kann z. B. aus ihm nicht sagen, daß {vas} in diesem part.  {uṣya} macht. ( Nalus. V. 82. Ram. l. 2. S. 1. sl. 83. a.) Nach ihm schiene keine Wurzel eine Aenderung zu erleiden. Der nasale Ton gehört nur den ersten 4 tenses an, u. das part. indecl. müßte, da die Wurzel in einen kurzen Vocal endigt, {naditya} nach der Regel heißen. Allein was in aller Welt könnte das Wort sonst für eine Form seyn? Dies u. Ew. Wohlgeb. Uebersetzung bestimmen mich, es danach für ein part. in-declinabile zu halten. Dann aber befände sich die erwähnte sonderbare Construction in ihr, u. Ew. Wohlgeb. schrieben mir im Winter, Sie glaubten nicht, daß es Stellen mit solcher Construction gäbe. Wie hätte Ihnen diese entgehen können? – Helfen Sie mir aus diesen dilemmen.

Die Stelle des Rāmāyana ist B. 1. Abschn. 1. sl. 61. a. Ich schreibe aber die ganze Stelle ab, weil mir nicht erinnerlich ist, ob Sie einen Ramayana jetzt besitzen.

{anādṛtya} {tu} {tadvākyaṃ} {rāvaṇaḥ} {kālacodita}
{jagāma} {sahamārīco} {sāmāśramapadaṃ} {tataḥ} 60.
{teta} {māyāvinā} {dūramapavāhya} {nṛmātmajai}
{rācaṇo} {ntaramāsādya} {sotāṃ} {surasutopamāṃ} 61.
{jahāra} {bhāryyāṃ} {rāmasya} {hatvā} {gṛdhraṃ} {jadāyuṣaṃ}

Hier weiß ich nicht anders zu construiren, als daß {tena} u. das nachfolgende Wort auf das part. indecl. gehen, da in der folgenden Zeile gleich ein Nom. einen neuen Satz beginnt. Diese Stelle läßt sich indeß noch durch ein Gerundium geben: nach dem mit Wegführen die Fürstenentsproßene durch den Zauberer. Es wird sogar hier die Erklärung durch ein part. schwer, weil dies nur im passiv stehen müßte, wie es auch die Englische Uebersetzung giebt. Rama (sie übersieht, daß hier auch von seinem Bruder die Rede ist) being drawn cet. Wenn aber dies sogenannte part. passiv genommen wird, so müßte das darauf folgende Wort ein Nominat. seyn. Dies könnte es nun förmlich seyn. Halten es Ew. Wohlgeb. aber nicht auch für einen Accusativus?

Alle Übrigen Stellen, wo dies part. vorkommt, lassen sich immer leicht u. gewöhnlich erklären, die beiden schwierigen constructionen sind nur die, welche sich in diesen Beispielen finden.

Da ich die Stelle des Nalus erwähnte, muß ich Sie um eine andere auf derselben S. 30 befragen. Ich gestehe, ich habe sl. 26. a.  das[b] umbrâ sine secundo u. die ihm entsprechenden Worte des Textes nie verstanden, u. vermag auch jetzt sie mir nicht zu erklären. Das Wort des Textes ist ein Compositum, wörtlich: der Schatten – unzweite. Was in aller Welt soll das heißen?

Wie geht es mit dem Druck Ihrer Grammatik? Ich freue mich sehr darauf, wenn ich nach Berlin zurückkomme, vielleicht etwas davon zu sehen. Von Schlegel höre ich schlechterdings nichts. Ich vermuthe, daß er sehr fleißig arbeitet.

Leben Sie herzlich wohl. Mit der hochachtungsvollsten Freundschaft
Ew. Wohlgeb.
ergebenster,
Humboldt.
Burgörner bei Hettstädt, den 26. April, 1822.

Fußnoten

    1. a |Editor| Lefmann ändert zu "Reihenfolge".
    2. b |Editor| Ergänzt aus der Kustode.