Wilhelm von Humboldt an Franz Bopp, 01.07.1822
Ich bin seit mehreren Wochen gar nicht wohl, sondern leide an einem hartnäckigen, zum Theil mit Husten verbundenem Fieber. Dies hatte mich sehr von allen litterarischen Beschäftigungen zurückgebracht, u. auch die Vollendung meines Aufsatzes, von dem ich Ew. Wohlgeb. neulich schrieb, aufgeschoben. Jetzt, da ich anfange wieder besser zu werden, bin ich dazu zurückgekehrt, u. muß Ew. Wohlgeb. in großer Beschämung um Verzeihung bitten, daß ich Sie in meinen früheren Briefen über eine Stelle des Ramayana I. 1. sl. 61. gewiß sehr irre geführt habe. Sie konnten meinen Irrthum nicht bemerken, da Sie, soviel ich weiß, den Text nicht besitzen, u. mein Fehler nur aus dem Zusammenhange der Stelle mit den vorhergehenden u. folgenden Sloken sichtbar werden konnte. Ich eile aber jetzt mein Versehen gut zu machen, u. setze nun die ganze Stelle, so weit es der Zusammenhang fordert, in Abschrift her:
Ramayana. B. 1. Abschn. 1.
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| sl. | 57. | 
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| 58. | 
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| sl. 59. | 
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| 60. | 
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| 61. | 
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| 62. | 
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Ich hatte Ew. Wohlgebohren neulich geschrieben, u. selbst immer fälschlich
                    vorausgesetzt, daß die Worte in sl. 61. a.  {tena} 
                    
 {māyāvinā} auf den Ravana giengen, u. alsdann gewann Sinn u. Construction
                    eine ganz andere Gestalt. Allein wenn man die ganze Reihe der Verse im
                    Zusammenhange liest, so erscheint klar, daß damit nicht Ravana, sondern Maritscha gemeint ist. Indem
                    dieser den Rama u. seinen Bruder entfernte, raubte jener
                    die Sita. Könnte darüber noch ein Zweifel sein, so wird
                    er dadurch gelöst, daß sl. 62. gesagt wird, daß Rama den Maritscha getödtet
                    hatte, was offenbar beweist, daß dieser sich an ihn, u. in seine Nähe gemacht
                    hatte. Setzt man nun dies voraus, so ist es nicht mehr nothwendig, den Instrumentalis in sl. 61. a. ausschließlich zu der gleich auf ihn folgenden Ver-balform in
                        
 {ya} zu ziehen, u. diese,
                    wenn man sie participialiter nimmt, passiv zu übersetzen. Ich construire nämlich nun so: 
 {rāvaṇo} 
                    
 {jahāra} 
                    
 {sotāṃ} 
                    
 {tena} 
                    
 {māyāvitā} 
                    
 {apavāhya} 
                    
 {nṛpātmajai} 
                    Participialiter übersetze ich entweder: Ravana
                    raubte die Sita vermittelst (mit Hülfe) des  die beiden Fürstenentsproßnen weit weg
                    entführenden Zauberers (nämlich des Maritscha) oder: Ravana raubte die Sita
                    vermittelst des Zauberers, indem dieser weit wegführte die Fürstenentsproßnen.
                    In beiden Fällen wird der Instrumentalis vom Hauptverbum 
 {jahāra}
                    regiert, aber in dem ersten die Verbalform als ein Attributivum zu dem Instrumentalis gezogen, in der zweiten die Verbalform als ein absoluter Participialsatz
                    im Nominativ behandelt. Der Gebrauch des Instrumentalis rechtfertigt sich gewiß sehr auf diese
                    Weise. Denn er kann ebensowohl das nähere, als entferntere Mittel der Handlung
                    anzeigen, u. in der That war Maritscha’s Wegführen Ramas das Mittel, durch welches der Raub der Sita erst möglich wurde. Ich muß noch bemerken, daß die
                    Englische Uebersetzung ausdrücklich die Worte 
 {tena} 
                    
 {māyāvinā} durch by the illusive form assuming Mareecha giebt. Nimmt man
                    die Stelle auf diese Weise, so schließt sich eine des 
                        Hitopadesa, die sonst auch nicht leicht zu
                    erklären war, unmittelbar an dieselbe an. Sie steht 
                        Londoner Ausg. S. 25. Z. 9. 10. 
 {tatastayā} 
                    
 {kuṭṭinyā} 
                    
 {tatkāraṇaṃ} 
                    
 {jāraṃ} 
                    
 {parijñāya} 
                    
 {sā} 
                    
 {lolāvato} 
                    
 {guptena} 
                    
 {daṃḍena} 
                    
 {daṃḍitā}. Hier ziehe ich auch
                    den Instrumentalis 
 {kuṭṭinyā} auf das participium, das den Satz
                    beschließt, 
                         und
                    
                        über-setze: sie wurde mit einer heimlichen Strafe bestraft
                    durch, vermittelst, mit Hülfe der den Buhlen erkannt habenden Kupplerin. So ist
                    Alles leicht, da ich bisher glaubte 
 {parijñāya}
                    passiv nehmen, oder den Mann, von dem gar ni|cht
                        die|
                    [a] Rede ist, herbeiholen zu müssen. Die Bestrafung durch die
                        |Kup|plerin[b] verstehe ich wieder nur
                    so, daß die Erkennung u. Entdeckung der Kupplerin die Strafe erst möglich
                    machte, nicht daß die Kupplerin sie verhängte, oder vollzog.
Daß beide Stellen sich übrigens ebensowohl u. besser als Gerundia erklären lassen, versteht sich von selbst.
Was ich nun sagen wollte, ist, daß die Stelle im Ramayana keine neue Ansicht in die Theorie dieser Verbalformen bringt, und daß, meinen jetzigen Untersuchungen zufolge, mir keine Stelle bekannt ist, wirklich keine einzige, welche sich nicht durch ein Participium im Activo erklären ließe, u. die nothwendig passiv genommen werden müßte, so daß diese Einwendung gegen die Participialerklärung mir unstatthaft scheint.
Ich bin aber demungeachtet fester, als je, der Meynung, daß die Verbalformen in
                         {tvā} u. 
 {ya} wirklich Gerundia sind, u. hoffe Ew.
                    Wohlgeb. meine Abhandlung gewiß noch in diesem Monat
                    zuschicken zu können.
der Ihrige,
Humboldt.
Burgörner bei Hettstädt, den 1. Jul. 1822.

