Raus aus dem Elfenbeinturm: Welchen Nutzen bringt die Grundlagenforschung? Und wie viel Theorie braucht die Praxis?
Im Fokus der Auftaktveranstaltung stand Leibniz‘ berühmtes Diktum „Theoria cum praxi“, Ausdruck seiner Bemühungen um die Einheit der Wissenschaft wie auch um ihre Verantwortung jenseits einer Trennung von Theorie und Praxis. Diese Fragen sind heute vor allem für die angewandten Wissenschaften relevant, aber auch die Grundlagenforschung ist hier angesprochen: Welchen Nutzen bringt es, nach Antworten zu suchen, ohne die Fragen zu kennen? Und wieviel Theorie braucht die Praxis?
Der erste Teil der Tagung „Theoria cum praxi – Wissenschaft zwischen Neugierde und Nutzen“ am 17. April 2015 widmete sich der Einheit der Wissenschaft. Diskutiert wurde die These, dass „Wissenschaft als Schnittstelle von Forschung und Leben, von Grundlagen und Anwendung“ zu begreifen ist, wie es der Philosoph Jürgen Mittelstrass einleitend formulierte.
Im zweiten Teil der Tagung am 25. Juni 2015 stand die Verantwortung der Wissenschaft im Mittelpunkt – ein zentrales Thema in den Lebenswissenschaften, aber auch relevant für die Strukturen und Ziele von Bildungs- und Forschungseinrichtungen wie Universitäten und Akademien.
Gerechtigkeit - Frömmigkeit - Gesundheit: Die Medizin im Denken Gottfried Wilhelm Leibniz'
Alfons Labisch
Universität Düsseldorf
Alfons Labisch, Medizinhistoriker und Arzt, fragte in seinem Vortrag nach der Rolle der Medizin in Leibniz‘ Denken. Der Medizin kam im 17. Jahrhundert ein strategischer Ort im Hinblick auf das sich verändernde Naturverständnis zu: War der „Leib“ zuvor als „naturgebunden“ in den Kreislauf nicht beeinflussbarer Kräfte integriert, wurde er nun zum „objektiv gegebenen Körper“, der beobachtet und behandelt werden kann. Damit wurde es möglich, das Leben nach wissenschaftlichen Regeln zu führen – Mittel dafür war (und ist auch heute noch) die Medizin. Auf praktischem Gebiet allerdings erscheint Leibniz „weniger als Arzt, denn als Gesundheitspolitiker“, wenn er eine gesundheitsgerecht gestaltete Gesellschaft forderte: Durch Beobachtung endemischer und epidemischer Krankheiten in Krankenhäusern sollte qualitative Forschung ebenso möglich werden wie die Kontrolle und ggf. Quarantäne von Patienten. Gesundheit wurde dabei als Wert auf eine Ebene mit Gerechtigkeit und Frömmigkeit gestellt – Werte, für die der Staat Sorge zu tragen hatte.
Theorie und Praxis, so Labischs Fazit, sind allerdings im Hinblick auf die Medizin bis heute nicht einfach zu verbinden, weil Ärzte in erster Linie Entscheidungen treffen und handeln müssen, auch gegen theoretische Einwände und bei fehlenden Forschungsdaten. Die Theorie reflektiert diese Herausforderungen der Praxis noch zu wenig und verpasst damit häufig die Chance, wirkungsvoll in die Praxis einzugehen.
Leibniz und die Akademieidee...
Eberhard Knobloch
Technische Universität Berlin, Akademiemitglied
Eberhard Knobloch erläuterte Leibniz‘ Grundidee der Akademie als eines Ortes, an dem die Vorstellung der „Machbarkeit der sozialen Welt“ im Zusammenwirken von Theorie und Praxis gespiegelt wird: Wissenschaftliche Forschung soll hier als Dienst am sozialen Fortschritt eines Landes begriffen werden, nicht als Forschung um ihrer selbst willen. Der Gedanke der Gemeinschaft, wie ihn Leibniz mit der Benennung als „Societät“ unterstützte, und die Unterordnung der Forschung und Kommunikation zwischen den heterogenen Fachgebieten unter das Gemeinwohl waren leitend. Anders als bei der Gründung der Leopoldina und der Royal Society standen bei der Societätsgründung deshalb auch nicht nur die Naturwissenschaften, sondern gleichwertig mit ihnen die Künste, d.h. Geisteswissenschaften und angewandte Wissenschaften, im Zentrum. Um „nutzbringende Weisheiten“ zu entdecken, also solche, die Probleme lösen, um zum Glück aller beizutragen, braucht es „Curiositas, d.h. Wissbegierde“, vor allem aber eine Bestandsaufnahme des Wissens, d.h. historische Forschung und eine andere Unterrichtspraxis als sie die Universitäten im 17. Jahrhundert mit in Leibniz‘ Augen dogmatischen Schulbildungen verfolgten, um dieses Wissens weiterzugeben. Der „Zweck der prozessualen, niemals abschließbaren Vervollkommnung der besten aller möglichen Welten“ wurde in der Akademie zunächst in 4, später in 5 Klassen verfolgt: Naturwissenschaften, Medizin, Geschichte, Literatur und Technikwissenschaften.
...und ihre Verwirklichung heute und morgen
Günter Stock
Akademiepräsident
Auf die Öffentlichkeitswirksamkeit der Akademie seit Leibniz‘ Zeiten verwies auch Akademiepräsident Günter Stock: Die Verwirklichung der Akademieidee beinhaltete von Beginn an die Schaffung wissenschaftspolitischer Institutionen, wie etwa das Theatrum Anatomicum zeigt, das in der Charité den Grundstein für die Medizin als Wissenschaft legte. Die Bildungsaufgaben, die schon für Leibniz zentral waren, auch nach dem Ideal Wilhelm von Humboldts als ganzheitliche Institution naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Forschung zu verfolgen, bleibt die große Herausforderung auch der modernen Akademie.
Heute hat die Akademie erstens die Aufgabe der Forschung, um etwa technische Entwicklungen im Kontext gesamtgesellschaftlicher Prozesse einordnen zu können „mit ihren erwünschten wie unerwünschten Wirkungen“. Sie hat zweitens die Aufgabe der Gesellschafts- und Politikberatung in diesem Sinne. Drittens trägt sie Sorge für die Entwicklungen im Wissenschaftssystem und dient dabei viertens als Ort der Reflexion über die Wissenschaften und deren Rechtfertigung.
Ziel der Akademie ist das Sammeln, Edieren und Weitergeben von Wissen, der freie Austausch von Argumenten und die Information über Probleme und Möglichkeiten der gesellschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen. In allen Aufgaben gehen Theorie und Praxis Hand in Hand, nicht sequentiell, sondern in Interaktion miteinander.
Die exoterischen Aufgaben der Philosophie und die Rehabilitierung der Anwendung
Carl Friedrich Gethmann
Universität Siegen, Akademiemitglied
Carl Friedrich Gethmann, Philosoph und Mitglied des Deutschen Ethikrates, fragte in seinem Abendvortrag nach dem Verhältnis von Philosophie und ihrer Anwendung. Er interpretierte Leibniz‘ Losung „Theoria cum praxi“ als den „wissenschaftlichen Grundton des neuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses“. Die Verbindung von Theorie und Praxis ist dabei keine sukzessive (die Praxis folgt auf die Theorie), sondern eine konditionale: Theorie gibt es, so Gethmann, „nur in Verbindung mit und dadurch, dass es Praxis gibt". Wissenschaft dient bestimmten Zwecken, denn sie ist an gesellschaftliche Prozesse, technische Entwicklungen, Gesundheitsförderung und andere, empirisch erfahrbare Dinge rückgebunden. Ein Erkenntnisinteresse ist Grundlage von Wissensbildung und bestimmt auch die Art und Weise, wie wir zu Wissen gelangen. Neuzeitlich wird die Experimentalanordnung, also die Loslösung einzelner Teilprozesse aus natürlichen Zusammenhängen, Grundlage für die Beobachtung, Erforschung und Veränderung dieser Prozesse. Francis Bacons Losung „Wissen ist Macht“ hängt mit dieser Verfügungsgewalt zusammen. Wie bei den Wissenschaften ist dieser Anwendungsbezug auch in der Philosophie zentral: Der Bezug auf konkrete Fälle bestätigt, erweitert, dementiert oder differenziert das Wissen, „die Anwendung bleibt dem Erkenntnisprozess nicht äußerlich“. Mit der konstitutiven Verbindung von Theorie und Praxis im Dreieck von Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft geht deshalb die Forderung nach einem Wissenschaftsethos einher, denn Wissenschaft wird auch in der Politikberatung immer wichtiger. Ein solcher Ethos muss deutlich machen, dass schon bei der Wissenserzeugung bestimmte Normen gelten und diese Voraussetzungen offenlegen; dass Wissenschaftler sich und ihre KollegInnen in der Scientific Community beobachten und korrigieren müssen und Plagiate nicht schlicht Fehler sind, die jedem mal unterlaufen können; und dass nicht zuletzt die Politikberatung an wissenschaftliche Kompetenz gebunden sein muss: Wer ein „Experte“ ist, soll für Gethmann enger und nach wissenschaftlichen Kriterien, nicht etwa nach öffentlichkeitswirksamen Auftreten, definiert werden.
Die öffentliche Tagung an zwei Tagen im April und Juni 2015 bildete den Auftakt zu einer Reihe von Veranstaltungen im Rahmen des Jahresthemas 2015|16 „Leibniz: Vision als Aufgabe“, das sich aus Anlass des Leibniz-Jubiläums 2016 dem Gründer der Akademie der Wissenschaften widmet. Im Zentrum steht, die Impulse aus Leibniz‘ Philosophie, seinen technischen Innovationen, seinen sozialen Bestrebungen und seinen vielfältigen kreativen Ansätzen für die Gestaltung einer Welt von morgen aufzunehmen.
Die Veranstaltung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung und fand in Kooperation mit L.I.S.A., dem Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung, statt.
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