Leibniz Objekt des Monats
Dezember 2016: Leibniz über Leibniz
Abbildung: Die Handschrift LH XXXV 14, 2 Bl. 115v enthält Leibniz’ dicht gedrängte Exzerpte aus Edme Mariottes Buch über die Stoßgesetze (Traité de la percussion ou chocq de corps, Paris 1673); den linken Rand des Blattes nutzt Leibniz für Kommentare sowie für eigene Überlegungen und Rechnungen; ediert in LSB VIII,2 N. 50 (S. 422-443).
Rechnungen zur Einkaufsliste
Bei dem großen Echo das Leibniz im Jahr seines 300. Todestags in den Medien fand, sorgten nicht selten seine Handschriften für Aufsehen. Eine Seite aus den 4.656 Blättern, die zu den Bänden der Reihe VIII gehören, wurde dabei besonders oft in der Öffentlichkeit gezeigt. Darauf zu sehen sind Rechnungen, Zeichnungen, Tabellen und Notizen am Rand sowie dicht gedrängter Text, der den Großteil der Seite einnimmt. Darin hält Leibniz fest, was ihm aus einer Abhandlung über Stoßgesetze wichtig erschien, die Edme Mariotte 1673 in Paris veröffentlicht hatte und die er ebenda selbst im Jahr darauf las.
Das mediale Interesse galt aber nicht Leibniz’ Exzerpten, die fast das ganze Blatt einnehmen, und auch nicht seinen eigenen Überlegungen und Rechnungen, die er davon ausgehend über die Gesetze des physikalischen Stoßes anstellte und auf dem frei gelassenen Rand des Blattes niederschrieb. Ganz andere Rechnungen sorgten für Aufsehen. Sie nehmen nur einen kleinen Teil auf dem Blatt ein und stehen in der linken oberen Ecke. Darin geht es nicht um Körper, Geschwindigkeiten und Gewichte. Gerechnet wird mit Würsten, Hühnchen, Brot und Wein – „saucisses“, „poulets“, „pain“, „chopine“, und zwar sowohl in absoluten Mengen und mit Preisangaben als auch verteilt auf einzelne Tage in Form einer Tabelle. Für Donnerstag sind darin zwei Würste vermerkt, für Freitag vier Würstchen, für Samstag sogar ein Karpfen („1 carpe“) und für Sonntag zwei Würstchen und ein Hühnchen.
Abbildung: Ausschnitt aus der Handschrift LH XXXV 14, 2 Bl. 115v mit Rechnungen zur Einkaufsliste und einem Essensplan für die Woche.
Abbildung: Teil des edierten Stückes in LSB VIII,2 N. 80 (S. 697-698, hier S. 697).
Allem Anschein nach führt Leibniz hier Rechnungen für eine Einkaufsliste durch und erstellt einen Essensplan für den Rest der Woche, die ursprünglich mit Mittwoch beginnen sollte, wie das abbrechende und gestrichene „Merc“ verrät. Was aber suchen diese Art Rechnungen und Planungen gerade hier? Ein eigenes Stück Papier oder ein Zettel würden dafür eher geeignet erscheinen. Kaum vorstellbar, dass Leibniz dieses Blatt vollgeschrieben mit Exzerpten und deutlich größer (25x36cm) als DIN A4 (21x29,7cm) mit zum Einkaufen nehmen oder aus der Hand geben wollte.
Der praktische Nutzen dieser Notizen bleibt also fraglich. Ihre Faszination zieht diese oft gezeigte Handschrift aber vielmehr daraus, dass uns hier unvermittelt Leibniz für einen Augenblick begegnet, wie er mit Dingen des alltäglichen Lebens beschäftigt ist. Die ganz primären Bedürfnisse, denen er gerade seine Aufmerksamkeit schenkt, könnten darüber hinaus noch Spuren auf dem Blatt hinterlassen haben und die auffälligen Flecken darauf erklären.
Leibniz fasziniert und macht auf den Menschen neugierig, der so viel auf so vielfältigen Gebieten erdacht, geplant, bewirkt und zu Papier gebracht hat. Daher kann es kaum verwundern, dass Leibniz auch über Leibniz geschrieben hat. Es gibt Stellen in seinen Schriften und Briefen, an denen er einen Blick auf sich wirft oder sogar zu sich selbst spricht – Momente, in denen sich der Mensch Leibniz zeigt.
Leibniz, der getriebene
Nicht mehr ganz unbekannt ist ein zugleich intimes und selbstkritisches Zitat, zumindest dem ungefähren Sinn nach. Verkürzt und in freier Übertragung hat es Eingang in den Wikipedia-Eintrag zu Leibniz gefunden: „Beim Erwachen hatte ich schon so viele Einfälle, dass der Tag nicht ausreichte, um sie niederzuschreiben.“ Das Originalzitat ist auf Französisch und findet sich unter den als autobiographisch katalogisierten Papieren seines Nachlasses auf einem kleinen Zettel (LH XLI 10 Bl. 2). Leibniz hatte dieses Stück Papier aus einem Brief abgerissen, von dem teils noch die letzten Zeilen und die Grußworte auf der Rückseite zu lesen sind. Auf diesem Zettel vermerkt er über sich selbst:
Il me vient quelques fois tant de pensées le matin dans une heure pendant que je suis encor au lit, que j’ay besoin d’employer toute la matinée et par fois toute la journée et au de là, pour les mettre distinctement par écrit.
Mir kommen morgens manchmal so viele Gedanken während einer Stunde, die ich noch im Bett liege, dass ich den ganzen Vormittag und bisweilen den ganzen Tag und länger brauche, um sie klar zu Papier zu bringen.
Abbildung: Die Handschrift LH XLI 10 Bl. 2: Vorderseite des Zettels mit dem zitierten Text von Leibniz (oben); Rückseite mit den letzten Zeilen eines Briefes fremder Hand.
So unscheinbar der Zettel ist, der diese Zeilen trägt, so aufschlussreich ist die damit überlieferte Selbstbeobachtung. Halb mit Erstaunen, halb als Ärgernis hält Leibniz hier fest, dass eine Fülle von Einfällen auf ihn niedergeht, wenn er morgens nicht schnell genug aus dem Bett kommt. Diese Flut will bewältigt werden, treibt ihn, aber trägt ihn auch.
Leibniz, der rastlose
Aus anderen Äußerungen ist zu schließen, dass er über solch einen Ansturm von Gedanken nicht unglücklich gewesen sein konnte. Eingestreut in ein Blatt mit Rechnungen zu mathematischen Folgen, die aus der Zeit seines Aufenthaltes in Paris stammen, vermerkt Leibniz im Oktober 1674 über sich selbst:
Malo enim bis idem agere, quam semel nihil.
Lieber will ich zwei Mal dasselbe tun als einmal nichts.
Abbildung: Der Ausspruch auf LH XXXV 5, 4 Bl. 31v ist grün eingekreist und in LSB VII, 3 N. 38.16 (S. 528-538, hier S. 537, Z. 9) ediert.
Eigentlich galt es an dieser Stelle nur eine Rechnung zu wiederholen. Die allgemeine Aussage, die Leibniz bei dieser Gelegenheit über sich trifft, lässt durchaus tief blicken. Selbst wenn ihm keine neuen Ideen kamen, blieb er nicht untätig, floh vor dem Nichtstun.
Zur Ruhe kam Leibniz auch im Gasthaus nicht, wie er aus den 1680er Jahren berichtet:
Cum nunc in itinere sim, et nihil habeam quod in diversorio hoc vespere agam, neque adsit cui colloqui velis, resumam, quod jam assecutus sum domi.
Da ich gerade auf Reisen bin und nichts habe, was ich diesen Abend im Gasthaus tun mag, und auch niemand hier ist, mit dem man reden möchte, werde ich das wieder aufgreifen, wozu ich daheim schon gekommen bin.
Abbildung: Mit dem Gasthaus-Zitat beginnt das Blatt LH XXXV 14, 1 Bl. 158r, das von Eberhard Knobloch (Der Beginn der Determinantentheorie: Leibnizens nachgelassene Studien zum Determinantenkalkül, Hildesheim: Gerstenberg, 1980, S. 213) ediert ist. Mit der Marginalie in der linken oberen Ecke liefert Leibniz nachträglich eine Angabe zum Inhalt.
Dieses verschriftlichte Selbstgespräch schickt Leibniz vorweg, bevor er sich auf dem Blatt daran macht, eine Unbekannte aus zwei Polynomen zu eliminieren, indem er ein Hilfspolynom heranzieht. Seine Rechnungen wären an jenem Abend aber nicht entstanden, wenn ihm im Gasthaus etwas anderes eingefallen wäre oder er jemand Interessanten angetroffen hätte. Das war aber nicht der Fall, wie wir von ihm erfahren. Mit seinen Anfangsworten scheint Leibniz vor sich selbst zu rechtfertigen, hier nun einer Beschäftigung nachgehen zu wollen, die ihm wohl selbst ein wenig ungewöhnlich für ein Gasthaus vorkam.
Leibniz, der hilflose
Wie viele Schriften aus seinem 100.000 Blätter umfassenden Nachlass verdanken wir jener Flut von Gedanken, die Leibniz zu Papier zu bringen suchte? Dieser Einfallsreichtum will aber nicht nur bewältigt werden. Er hat auch eine Kehrseite, die Leibniz klar erkennt. Er bringt sie in einem Brief vom 15. September 1695 zur Sprache, den er dem Juristen, Philosophen und Schriftsteller Vincent Placcius in Hamburg schrieb:
Habeo vero tam multa nova in Mathematicis, tot cogitationes in Philosophicis, tot alias literarias observationes, quas vellem non perire, ut saepe inter agenda anceps haeream, et prope illud Ovidianum sentiam: inopem me copia fecit.
Ich aber verfüge über so viel Neues in Dingen der Mathematik, über so viele Gedanken in Fragen der Philosophie, über so viele andere wissenschaftliche Einsichten, die ich nicht verloren geben will, dass ich oft unentschlossen stocke, was zu tun ist, und mich jenem Vers des Ovid nahe fühle: "Hilflos hat mich mein Reichtum gemacht."
Abbildung: Ausschnitt von LBr 730, Bl. 49 mit dem am Rand grün markierten Zitat aus Leibniz’ Brief an V. Placcius, der nur als Auszug aus der nicht gefundenen Abfertigung überliefert ist; ediert in LSB II,3 N. 31 (S. 79-81, hier S. 80, Z. 6-8).
Der zitierte Halbvers stammt aus dem Mythos von Narziss und Echo in Ovids Metamorphosen (III, 466): Gebannt von der Schönheit seines Spiegelbilds im Wasser weiß Narziss nicht mehr weiter, weil ihn ein leidenschaftliches Verlangen nach dem, was er selbst hat und ist, verzehrt. Ähnlich ratlos empfindet sich demnach Leibniz, wenn er gleichsam gebannt vom Reichtum seiner Einfälle und Entdeckungen oft nicht wisse, welchen Gedanken, Erfindungen oder Projekten er als nächstes nachgehen solle.
Leibniz, der sprunghafte
Diese Vielfalt, die Leibniz hier als Problem und Kehrseite seines Ideenreichtums beschreibt, rettet ihn zugleich. Denn, sich auf ein einzelnes Feld zu beschränken, war ihm nach eigener Aussage gar nicht möglich. Dieses Eingeständnis macht er der Herzogin Eleonore von Celle in einem Brief vom 13. Januar 1699:
Ce pendant je veux bien avouer que je n’ay jamais pû me condamner à une seule espece de travail, le changement m’a tenu lieu de relache. Mais s’il est permis à la plus part des gens d’employer tant d’heures aux divertissemens ordinaires, il me sera permis de travailler à l’avancement des sciences, […].
Jedoch will ich gern zugeben, dass ich mich niemals nur einer Art von Arbeit verschreiben konnte, die Abwechslung war mir Ersatz für Erholung. Aber wenn es den meisten Menschen erlaubt ist, so viele Stunden mit gewöhnlichen Vergnügungen zu verbringen, wird es mir erlaubt sein, am Aufstieg der Wissenschaften zu arbeiten.
Abbildung: Ausschnitt aus dem Konzept seines Briefes an die Herzogin von Celle vom 13.01.1699; die Abfertigung ist nicht erhalten; ediert in LSB I,16 N. 44 (S. 67-71, hier S. 71, Z. 5-8).
Immer dasselbe zu tun, scheint für Leibniz ähnlich undenkbar, wie nichts zu tun. Bei der Fülle seiner Einfälle kann er auch kaum zur Ruhe gekommen sein. Erholung verschafft er sich, wie er sagt, aus dem Wechsel („changement“), indem er von einem zum anderen springt. Alles andere wäre für ihn demnach unerträglich, ermüdend und kaum vorstellbar gewesen. Dieser persönlichen Natur von Leibniz scheint der universelle Charakter seines Schaffens zu entsprechen oder vielmehr zu entspringen.
Solch einen spontanen Sprung in ein gänzliches anderes Gebiet, eine andere Aufgabe und Tätigkeit können wir vielleicht auch in jenen Notizen am Rand seiner Exzerpte zu Mariotte vermuten. Seine Essens- und Einkaufspläne dürften ihn wohl gründlich aus seiner Beschäftigung mit den Gesetzen des physikalischen Stoßes gerissen haben. Die kleine Abwechslung, die er sich damit verschaffte, mag umso erholsamer gewesen sein, als sie womöglich mit konkreter Essensbeschäftigung einherging.
Autor: Harald Siebert, Leibniz-Edition Berlin der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
Literaturverzeichnis:
Eduard Bodemann, Die Leibniz-Handschriften [Hannover, 1889], Hildesheim: Georg Olms, 1966, S. 338
Reinhard Finster/Gerd Van Den Heuvel, Gottfried Wilhelm Leibniz, Hamburg: Rowohlt, 1990, S. 32
Eberhard Knobloch, Der Beginn der Determinantentheorie : Leibnizens nachgelassene Studien zum Determinantenkalkül, Hildesheim: Gerstenberg, 1980
Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, Reihe I: Allgemeiner, politischer und historischer Briefwechsel, Bd. 16: Oktober 1698 – April 1699, Berlin 2000, N. 44, S. 67-71
Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, Reihe II: Philosophischer Briefwechsel, Bd. 3: 1695-1700, Berlin 2013, N. 31, S. 79-81 (http://www.uni-muenster.de/Leibniz/bd_2_3_2009.html)
Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, Reihe VII: Mathematische Schriften, Bd. 3: 1672-1676, Berlin 2003, N. 38.16, S. 528-538 (http://www.gwlb.de/Leibniz/Leibnizarchiv/Veroeffentlichungen/VII3B.pdf)
Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, Reihe VIII: Naturwissenschaftliche, medizinische, technische Schriften, Bd. 2: 1668-1676, Berlin 2016, N. 50, S. 422-443 (http://leibniz-berlin.bbaw.de/leibniz-online/bd-viii-2/at_download/file)
Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, Reihe VIII: Naturwissenschaftliche, medizinische, technische Schriften, Bd. 2: 1668-1676, Berlin 2016, N. 80, S. 697-698 (http://leibniz-berlin.bbaw.de/leibniz-online/bd-viii-2/at_download/file)
Kurt Müller/Gisela Krönert, Leben und Werk von Gottfried Wilhelm Leibniz. Eine Chronik, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 1969, S. 157
Online-Projekt „Leibniz-Objekt des Monats“:
Das Projekt „Leibniz-Objekt des Monats“ stellt mit Expertenbeiträgen über das Leibniz-Jahr 2016 hinweg jeden Monat ein Archivale oder eine Handschrift vor. Ziel ist es, einerseits die grundlegende Bedeutung von Leibniz für die Akademiegeschichte herauszustellen und andererseits die Arbeit „an Leibniz“ sichtbar zu machen, die tagtäglich an der Akademie stattfindet. Die gezeigten „Objekte“ zeichnen in ihrer Gesamtheit ein ganz eigenes Bild vom Leben und Wirken des großen Visionärs.