In den europäischen Öffentlichkeiten wird regelmäßig ein gemeinsamer europäischer Geist beschworen, dessen Ursprung unter anderem in den gesellschaftlichen Umbrüchen ab dem Zeitalter der Aufklärung gesehen wird. So erstrebenswert ein friedvoll europäischer Einheitsgedanke im Sinne einer gemeinsamen Werte- und Rechtskultur ist, so bedenklicher wird er jedoch als Abwertungs- bzw. Abgrenzungsargument gegenüber anderen Gesellschaftsordnungen. Doch ist das Konzept der Aufklärung ein schlichtweg europäisches Projekt oder könnte es auch universellen Anspruch erheben? Und wie einig war sich das Europa der Aufklärung wirklich über einen gemeinsamen Wertekanon, auf den heutzutage so gern rekurriert wird?
Der dritte Abend der Akademievorlesung „Europa in globaler Perspektive“ widmete sich diesen Fragen mit Vorträgen zweier Professoren für Neuere Geschichte aus einer alternativen Blickrichtung heraus.
Barbara Stollberg-Rilinger: "Das Europa der Aufklärung - ein 'corps politique'?"
Akademiemitglied Barbara Stollberg-Rilinger begibt sich auf die Suche nach den Ursprüngen der europäischen Einheit und findet sie etwa in der Konkurrenz der damaligen Dynastien begründet. Sie argumentiert: „Was man damals Europa nannte, gewann seine Konturen vor allem durch die permanente Konkurrenz unter den verschwägerten Dynastien. Die strukturelle Friedlosigkeit führte zur Ausbildung eines gemeinsamen Handlungsrepertoires, mit dem Konflikte angefangen, ausgetragen und beigelegt wurden.“