Leibniz-Objekt des Monats
Februar 2016: Leibniz' Entwürfe einer Bibliothekssystematik
© Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, Hannover, LH XL Bl 132r.
Der Kosmos des Wissens auf einen Blick
Möchte man Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) ganz knapp charakterisieren, bezeichnet man ihn gern als das letzte Universalgenie. Sieht man davon ab, dass er nicht unbestritten der jüngste Kandidat für diesen Titel ist, man also weitere, gewissermaßen allerletzte Universalgenies kennt (zum Beispiel Goethe), passt die Bezeichnung ganz gut. Seine gelehrten Zeitgenossen besaßen zwar in der Regel eine ziemlich umfassende Bildung und waren auf verschiedenen Gebieten wissenschaftlich tätig, aber die Breite seiner Kenntnisse und Interessen und vor allem seine innovativen Beiträge zu verschiedenen Wissenschaften ragen auch unter ihnen heraus. Fragt man nach Dokumenten, die dieses universale Wissen erfahrbar machen, bieten sich Leibniz' Entwürfe für die Systematik einer Universalbibliothek an.
Der Bibliothekar und Bibliothekshistoriker Uwe Jochum hat die Bibliothek als „Kosmos des Wissens” bezeichnet. Auf Leibniz' Entwürfe für eine bibliothekarische Sachsystematik passt diese Metapher hervorragend: Die Charakterisierung als 'Kosmos' meint ja nicht nur das Umfassende, sondern weist auch darauf hin, dass das so Bezeichnete in sich abgeschlossen und vor allem sinnvoll geordnet ist. Es geht keineswegs darum, die verschiedenen Wissensgebiete einfach aneinander zu reihen. Vielmehr bringt ihre rechte Ordnung bereits Einsichten in die Natur des Wissens zum Ausdruck und vermittelt diese an den Betrachter. Um die Aufstellung einer derartigen Ordnung des Wissens hat sich Leibniz in einer Reihe von Entwürfen bemüht, die vor allem in den 1690er Jahren entstanden sind.
Abbildung links: Als einen Weg, die Bibliothekssystematik auf einen Blick überschaubar zu machen, hat Leibniz die Darstellung in Spalten gewählt. Bei diesem kleinformatigen Konzept musste er jedoch Vorder- und Rückseite nehmen, so dass hier nur der zweite Teil, überschrieben mit „LITERAE”, zu sehen ist.
© Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, Hannover, LH XL Bl 131v.
Abbildung rechts: Auf der rechten Blattseite (ursprünglich der Korrekturrand des Textes auf der linken Blattseite) hat Leibniz immer wieder neu angesetzt, eine Wissensordnung in tabellarischer Form zu skizzieren.
© GWLB, LH XL 140r.
Eine Momentaufnahme
Zwei dieser Entwürfe, die man als eine Lang- und eine Kurzfassung interpretiert hat, sind bereits kurz nach seinem Tod veröffentlicht worden und haben das Bild des Bibliothekstheoretikers Leibniz bis in die letzten Jahre geprägt. Im Grunde schien in dieser Sicht seine Konzeption nicht sonderlich spannend: Sie beruhe vornehmlich auf der Gliederung der Universität in vier Fakultäten (Theologie, Jurisprudenz, Medizin und Philosophie), sei also recht traditionell. Diese Einschätzung ist nicht völlig falsch, sie muss aber modifiziert werden, seitdem eine ganze Reihe weiterer Entwürfe aus den Handschriften ediert und im Rahmen der Leibniz-Akademieausgabe in den Bänden 5 und 6 der in der Leibniz-Editionsstelle Potsdam erarbeiteten „Politischen Schriften” publiziert worden sind.
Jetzt zeigt sich, dass die zuvor bekannten Entwürfe keineswegs die Lang- und Kurzfassung der einen von Leibniz formulierten Bibliothekssystematik sind, sondern lediglich zwei Momentaufnahmen in einem langwierigen Ringen um die rechte Ordnung und ihre angemessene Formulierung. Zwei Momentaufnahmen zudem, die keineswegs denselben Moment festhalten. Das hier gezeigte Manuskript dokumentiert wiederum einen anderen Moment in Leibniz' Denkprozess. Im Rahmen des Fakultätenschemas hat er bis ins Detail immer wieder umgeordnet und auch terminologisch experimentiert. Die ständigen Umarbeiten zeigen, dass er die traditionelle Vorgabe, die sicherlich aus pragmatischen Überlegungen als Ausgangspunkt gewählt ist, nicht einfach übernehmen, sondern zugleich erkenntnistheoretisch begründen wollte.
Die Konstruktion einer Wissensordnung
Tatsächlich beginnt der vorliegende Entwurf ganz traditionell. Das obere Drittel der Seite ist den oberen Fakultäten („Facultates Superiores“) gewidmet: Theologie, Jurisprudenz und Medizin. Spannender ist der Bereich der unteren, der Philosophischen Fakultät, der das ganze übrige Wissen aufnehmen muss. Dessen massives Anwachsen, besonders in den Naturwissenschaften, hat später zum Aufbrechen der Philosophischen Fakultät im 19./20. Jh. geführt. Leibniz bezeichnet sie nicht so, sondern spricht (ganz an den linken Rand gedrückt) von „untergeordneter Gelehrsamkeit“ („Literae subordinatae“).
Diese ist in die „genaueren“ („severiores“) und die Humanwissenschaften („Humaniores”) geteilt. Letztere umfassen Philologie und Geschichte (inclusive Geographie). Die Benennung „Philosophia” weist Leibniz allein den „severiores” zu. Sie zerfällt in drei Wissensbereiche, die hierarchisch vom Geistigen zum Sinnlichen absteigend geordnet sind. An der Spitze steht die eigentliche Philosophie („Philosophia intellectualis”), gefolgt von den mathematischen Disziplinen, der ihnen traditionell verbundenen Musik und technischen Fächern („Philosophia imaginabilium”). Am Ende finden sich die Naturwissenschaften („Philosophia sensibilium”). Auf den unteren Rand hat Leibniz schließlich das gequetscht, was sich sonst nicht unterbringen ließ, die allgemeinen (Nachschlage-)Werke und die vermischten Schriften.
Die Divisionstafel soll die Ordnung des Wissens und der Bücher auf einen Blick überschaubar machen.
© GWLB, Hannover, LH XL Bl 132r.
Auf einen Blick
Die Manuskriptseite zeigt zudem einen weiteren Aspekt seines Interesses an der Ordnung des Wissens. Das Stichwort information overload war zwar um 1700 noch nicht bekannt, die Sache aber sehr wohl. Gerade ein so universaler Geist wie Leibniz musste erkennen, dass das gesamte Wissen für den einzelnen nicht mehr beherrschbar war. So hat er immer wieder betont, dass an sich bereits viel Wissen vorhanden, dieses aber weder gesammelt, noch geordnet, noch auf seine Kernaussagen konzentriert sei. Erst dann sei es überblickbar und handhabbar – nicht nur für Gelehrte, sondern auch für Herrscher und Politiker, die sich im Interesse einer rationalen, am Gemeinwohl orientierten Politik seiner bedienen sollten.
Der gewonnene Überblick kennzeichnet zugleich eine privilegierte Art der Erkenntnis: Das Erfassen der Zusammenhänge auf einen Blick entspricht der göttlichen Sicht auf die Welt. Um diesen Überblick zu gewähren – wenn schon nicht das Wissen, so doch seine Ordnung auf einen Blick erfassbar und verstehbar zu machen – hat Leibniz in unserem Manuskript auf die damals verbreitete Form des Divisionsdiagramms zurückgegriffen. Den übergeordneten Begriffen werden mittels Schweifklammern untergeordnete Begriffe zugeordnet, diese wiederum mittels Schweifklammern differenziert usw. usw.
Beim Schreiben denken
Nun mag man einwenden, dass die Manuskriptseite, wenn man sie näher betrachtet, in den Details keineswegs übersichtlich sei, ja geradezu chaotisch wirke. Es handelt sich eben um ein Konzept, nicht um eine Reinschrift. Für Leibniz ist das ein typisches, gar nicht einmal besonders schwierig zu entzifferndes Konzept: Er setzt an, formuliert, verwirft die Formulierung, setzt neu an, streicht wieder, ergänzt das Gestrichene an anderer Stelle ... Leibniz hat gewissermaßen mit der Schreibfeder in der Hand gedacht. Insofern ist die Bezeichnung des Entwurfs als Momentaufnahme eigentlich zu eng. Wenn man in dem gewählten Bild bleiben möchte, müsste man von einem Kurzfilm sprechen, denn seine Korrekturen erlauben uns, ihm ein wenig beim Schreiben und beim Denken über die Schulter zu schauen.
Der vorgestellte Entwurf zu einer Bibliothekssystematik ist ediert in:
Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, Reihe IV: Politische Schriften, Bd. 6: 1695-1697, Berlin 2008, N. 77, S. 516-519
(online: http://leibniz-potsdam.bbaw.de/bilder/IV6text.pdf)
Autor: Stephan Waldhoff, Leibniz-Edition Potsdam der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
Online-Projekt „Leibniz-Objekt des Monats“:
Das Projekt „Leibniz-Objekt des Monats“ stellt mit Expertenbeiträgen über das Leibniz-Jahr 2016 hinweg jeden Monat ein Archivale oder eine Handschrift vor. Ziel ist es, einerseits die grundlegende Bedeutung von Leibniz für die Akademiegeschichte herauszustellen und andererseits die Arbeit „an Leibniz“ sichtbar zu machen, die tagtäglich an der Akademie stattfindet. Die gezeigten „Objekte“ zeichnen in ihrer Gesamtheit ein ganz eigenes Bild vom Leben und Wirken des großen Visionärs.