Leibniz-Objekt des Monats
Juni 2016: Ein Rezept für „Monsieur Leipnitz“
Ein Rezept für „Monsieur Leipnitz“
Unter den medizinischen Schriften in Leibniz' Nachlass befindet sich ein Zettel, der einen erstaunlichen Einblick nicht nur in Leibniz' Lebensalltag, sondern auch in die medizinische und pharmazeutische Realität seiner Zeit bietet. Das Stück Papier mit den Maßen ca. 9 x 23 cm wurde offensichtlich von einem größeren Blatt abgeschnitten und ist vermutlich französischer Herkunft, enthält jedoch kein Wasserzeichen.
Abbildung: LH III 5 Bl. 128r, Leibniz-Archiv GWLB Hannover.
Auf dem Zettel befinden sich zwei Texte. Der obere nimmt mehr als zwei Drittel des Blattes ein und ist von einer unbekannten Hand geschrieben. Am unteren Rand befindet sich eine Notiz von Leibniz' eigener Hand, die aus nur zwei und einer halben Zeile besteht.
Abbildung: Ausschnitt aus Rezept und daneben die standardisierte Version der Rec-Ligatur.
Der obere, nicht von Leibniz geschriebene Text beginnt mit der Ligatur für Recipe, die damals üblicherweise den Beginn der Zutatenliste eines pharmazeutischen Rezeptes markiert. Die folgenden Zeilen bilden eine Liste der Inhaltsstoffe mit Mengenangaben:
ungt. de Ceruss. Camphur. [1.5 Unze]
Rob Sambuc. [keine Angabe]
Theriaca veneta veter. a͞a [2 Drachmen]
Spirit. vin. Camph. [8 1/2, Maßeinheit unklar]
Flor. Sambuc. a͞a [2.5 Drachmen]
Camphor. [1 Scrupel]
contus. cum Flor. Sambuc. [1 Drachme]
m. f. l. a. ungt.
Abbildung: Ausschnitt aus Rezept.
Unguentum de Cerussa Camphuratum bezeichnet den Grundstock oder die Matrix der Salbe aus Fett, Wachs, und Wasser typischerweise 4:1:1 (w/w). Cerussa oder auch Bleiweiß wurde hergestellt durch Vergraben von Blei-Spänen neben einem offenen Gefäß mit Essigsäure unter einem Misthaufen. Dies führt zu einer Verbindung aus Pb-Ionen mit wechselnden Anteilen von Acetat, Carbonat und Hydroxid. Dieser Stoff ist weiß und von einer hohen Deckkraft. Auf Grund seiner hohen Deckkraft wurde der reinweiße Stoff bis ins 18. Jahrhundert hinein verbreitet in der Malerei eingesetzt. In der Medizin galt die Substanz damals als wundheilend. Für die Salbe wurde er mit dem Grundstock üblicherweise etwa im Verhältnis 1:2 (w/w) gemischt. Kampfer (Camphora oder Camphura) wurde zur Leibniz-Zeit als Produkt wilder Kampferbäume auf Borneo isoliert und nach Europa importiert. Der Anteil an der Salbe beträgt gewöhnlich ca. 4 % (w/w).
Abbildungen: Bleiweiß, © CC BY-SA 3.0 / Camphor
Abbildungen: Hollunderblüten, Public Domain / Hollunderbeeren, © Martin Roell CC BY-SA 3.0
Die Zumischungen zu dieser Salbe beginnen mit Rob Sambuci. Rob ist ein Lehnwort vermutlich aus dem persischen Arabisch, das einen eingedickten Saft bezeichnet. Sambucus ist im deutschen Sprachraum bekannt als schwarzer Holunder.
Mit Theriaca veneta veteris dürfte die Theriaca Andromachi senioris gemeint sein und damit ein Medikament, dessen Geschichte in der Antike beginnt. Es begann als Mittel gegen Bisse wilder Tiere, das auf der Grundlage Gleiches heilt Gleiches aus Schlangenfleisch bestand. Bis zur Leibniz-Zeit hatte es sich zu einer Mischung aus 64 Bestandteilen tierischen, pflanzlichen und auch mineralischen Ursprungs entwickelt und galt als zuverlässiges Mittel gegen alle Krankheiten. Herstellung und Vertrieb waren durch venezianische Kaufleute monopolisiert. Diese Faktoren bewirkten einen Preis, der Theriaca für die meisten Kranken unerschwinglich machte.
Spiritus vini wird hergestellt durch Destillation von Wein, er besteht aus Alkohol (Ethanol) mit geringen Resten von Wasser und Essigsäure. Darin wird fester Kampfer gelöst. Vermutlich kommen zu diesem Gemisch auch noch Holunderblüten, so dass eine Tinktur aus Holunderblüten mit Kampfer erneut destilliert wird.
Die letzte Zugabe ist eine Mischung aus Kampfer und Holunderblüten, die miteinander verrieben werden. Das dient vermutlich der Extraktion nicht wasserlöslicher Bestandteile aus den Blüten.
Die Herstellungsprozedur („m. f. l. a. ungt." [misce secundum leges artis unguentum] = „Mische die Salbe nach den Gesetzen der Kunst") besteht in einfachem Mischen der aufgelisteten Bestandteile bis zu einem homogenen Gemisch. Dafür müssen die flores Sambuci und die Theriaca pulverisiert werden. Da den Apothekern der Zeit nur manuell bediente Instrumente zur Verfügung standen, war die Herstellung dieser Salbe anstrengender, als die Prozedur erkennen lässt.
Das Rezept endet mit Leibniz' Namen als dem Empfänger und mit dem Datum der Erstellung (26.X.1708). Angaben zum Gebrauch (Einzeldosis, Applikationsfrequenz) fehlen.
In modernen Ausdrücken beschreibt dieses Rezept eine Salbe mit einer Matrix aus Fett und Wachs, Wasser und Ethanol, die als Wirkstoffe Blei, Kampfer, Holunderbeersaft und die fettlöslichen Anteile aus Holunder-Blüten, dazu ein wenig definiertes Gemisch aus 64 pharmazeutisch und physiologisch meist nachteiligen Bestandteilen enthält.
Der untere, von Leibniz selbst geschriebene Text ist auf Französisch und beschreibt den Verwendungszweck dieses Medikaments.
Abbildung: Ausschnitt aus Rezept: „à cause d'un Erysipele au pied gauche, en dedans, au bas de la jambe”.
Leibniz notiert, dass diese Salbe zur Behandlung eines Erysipels an der Innenseite seines unteren linken Beins vorgesehen ist. Das Krankheitsbild eines Erysipels ist ein klar abgregrenzter Bereich mit Schwellung, starker Rötung und meist erhöhter Temperatur auf der Körperoberfläche. Nach heutiger Kenntnis werden diese Symptome durch eine Infektion mit Streptokokken bewirkt, die durch eine Wunde unter die Haut gelangen können. Diese Bakterien bilden Kolonien in den Lymphgefäßen. Im Extremfall werden diese blockiert und der Metabolismus und insbesondere Immunreaktionen des Körpers werden unterbunden.
Aus seinen Briefen ist zu erkennen, dass Leibniz etwa ab 1702 an einem offenen Bein litt. Bei einer derart großen Wunde ist in Zeiten mangelnder Hygiene eine Folgeinfektion mit Streptokokken sehr wahrscheinlich. In den Jahren zwischen dem Beginn des Beinleidens und diesem Rezept hat Leibniz sehr wahrscheinlich versucht, den Zustand seines Beines zu verbessern. Das Aufsuchen eines weiteren Arztes, der Inhalt dieses Rezepts und seine eigene Notiz darauf zeigen, dass er dabei keinen Erfolg hatte und auch aus dem Beinleiden folgende Probleme für seine Gesundheit nicht verhindern konnte. Dem Papier nach stammte dieses Rezept vermutlich von einem französischen Arzt. Zudem ist aus anderen Quellen bekannt, dass Leibniz am Tag der Ausfertigung für Herzog Anton Ulrich in Braunschweig tätig war. Offensichtlich war Leibniz' Frustration mit den Ärzten und ihren Präparaten in seinem Hannoveraner Umfeld so groß, dass er einen fremden Arzt vor Ort um Hilfe bat. Ob er diese Salbe tatsächlich anfertigen ließ und applizierte, ist derzeit unbekannt.
Eine pharmazeutische Beurteilung dieses Präparats nach heutigen Kenntnissen beginnt mit der Beobachtung, dass Blei dem Wachsen neuer Epithelzellen zum Verschließen der Wunde in der Haut entgegen wirkt. Ebenfalls bedeuten einige Bestandteile der Theriaca eine deutliche Belastung für den Körper. Wegen der geringeren Menge und der bloß äußerlichen Anwendung einer Salbe bewirken sie in diesem Fall vermutlich nur vernachlässigbare Störungen des Metabolismus. Die pflanzlichen Inhaltsstoffe agieren als wenig potente und unspezifische Stimulantien des Metabolismus. Antibiotische Fähigkeiten zur Abwehr der Streptokokken hat das Präparat jedoch nicht. Die unsterile Anfertigung der Salbe macht sie dagegen zu einer Quelle für erneute Infektionen. Dieses pharmazeutische Präparat bedeutete für Leibniz keine Hilfe zur Heilung, sondern eine deutliche Belastung. Leibniz entkam also dem Risiko nicht, das mit dem Besuch bei einem Arzt seiner Zeit einherging.
Soweit bisher bekannt, vertritt auch Leibniz, wie andere Gelehrte in der Frühen Neuzeit, in seinen Manuskripten zur Medizin eine auf Beobachtungen von Ursache und Wirkung basierte Therapie. Dieses Konzept hat sich heute als evidenzbasierte Medizin durchgesetzt, jedoch erst, nachdem das von Leibniz immer wieder vermisste Wissen tatsächlich gesammelt wurde. Die Forderung nach einem empirischen Fundament für die Medizin unterscheidet Leibniz von den etablierten Ärzten seiner Zeit, die einem von antiken Autoren und Autoritäten formulierten medizinischen Paradigma, der sog. Humoralpathologie, folgten. Tatsächlich aber konsultiert Leibniz einen Arzt, der ihm ein auf tradierten Autoritäten und Üblichkeiten basierendes, seine Gesundheit letztlich schädigendes Rezept ausstellt, der Leibniz aber den gesellschaftlichen Kennzeichen nach (männlich, Universitätsabschluss, Fremdsprachen kundig, international gereist, finanziell gesichert, etc.) ähnlich ist. Auch für Leibniz gilt gelegentlich praxis contra theoriam.
Autor: Sebastian W. Stork, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Leibniz-Editionsstelle Berlin, BBAW.
Online-Projekt „Leibniz-Objekt des Monats“:
Das Projekt „Leibniz-Objekt des Monats“ stellt mit Expertenbeiträgen über das Leibniz-Jahr 2016 hinweg jeden Monat ein Archivale oder eine Handschrift vor. Ziel ist es, einerseits die grundlegende Bedeutung von Leibniz für die Akademiegeschichte herauszustellen und andererseits die Arbeit „an Leibniz“ sichtbar zu machen, die tagtäglich an der Akademie stattfindet. Die gezeigten „Objekte“ zeichnen in ihrer Gesamtheit ein ganz eigenes Bild vom Leben und Wirken des großen Visionärs.