Jahresthema 2021|2022

"Die Vermessung des Lebendigen"

 

Das Jahresthema rückt den Wettstreit der Disziplinen um die Deutung des Lebens in den Fokus und fragt: Wie wollen wir heute unter den Bedingungen zunehmend präziser Messbarkeit das Lebendige verstehen?

Diese komplexe Frage soll in einem bunten Veranstaltungsprogramm an der Schnittstelle von Wissenschaft, Kunst und Literatur in den kommenden zwei Jahren immer wieder neu gestellt werden. Anlass sind die 200sten Geburtstage des Physikers Hermann von Helmholtz und des Mediziners Rudolf Virchow. Ihre naturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen und Vermessungstechniken verleihen im 19. Jahrhundert einer Lebenswissenschaft Kontur, die unsere Weltsicht bis heute entscheidend prägt. So materialisiert sich etwa in Helmholtz‘ Augenspiegel von 1851, dem sogenannten Ophthalmometer, eine Physik des Lebendigen, die den Blick ins Körperinnere freigibt und die Netzhaut des lebenden Auges zu einer messbaren Größe werden lässt. In Virchows medizinischem Gutachten „Ueber die Kanalisation in Berlin“ von 1868 wird ein Lebenswissen produziert, das Epidemien an die sozialen Wohnbedingungen rückbindet, sodass sich beispielsweise ein Zusammenhang zwischen Stockwerkszugehörigkeit und Sterberate erkennen lässt: Um letztere in den zu feuchten Kellerwohnungen zu senken, empfiehlt Virchow eine tiefgelegte Kanalisation. Gleichzeitig zeigen beide Gelehrte, zu welch’ problematischen Konsequenzen Vermessungen des Lebendigen führen können – beispielsweise dann, wenn man menschliche Schädel vermisst und daraus Konsequenzen ziehen will.

Das Jahresthema möchte Helmholtz‘ und Virchows Körper- und Stadtvermessungen zum Ausgangspunkt wissenschaftlicher, künstlerischer und literarischer Annäherungsversuche machen, die in ganz unterschiedlichen Veranstaltungsformaten den Wahrnehmungsweisen und Darstellungsformen des Lebendigen und seiner Messbarkeit von damals bis heute nachgehen. Wie werden vereinfachende Debatten beim Thema Leben vermieden, wenn seine Messbarkeit ständig steigt? Wie geht man mit millionenfach gespeicherten Daten über Leben um? Ist Künstliche Intelligenz nicht irgendwie auch lebendig? Wie lassen sich in einer immer stärker globalisierten Welt verschiedene Auffassungen des Lebens unterschiedlichster Kulturen bewahren? Welchen Beitrag leisten künstlerische Verfahrensweisen zu einer Vermessung des Lebendigen? Welche neuen literarischen Schreibweisen lassen sich im digitalen Zeitalter im Hinblick auf das Schreiben von Leben (Bio-Grafie) beobachten? 

Wir laden Sie sehr herzlich zu einer lebendigen Diskussion ein, die in den nächsten zwei Jahren in Vorträgen, Workshops, Performances, Ausstellungen und Lesungen um diese und andere Fragen kreist.