Angerburg, den 18. Septbr. 1838

Ew. Exzellenz

haben bei meiner letzten Anwesenheit in Steinort mir geneigtest Ihren Reiseplan und die unbeschreiblich traurigen Beweggründe, die ihn veranlassen, mitgeteilt; ich kenne nur zu gut den Kummer, der an Ihrem Herzen nagt und Ihre Gesundheit untergräbt, und Ew. Exzellenz zweifeln gewiss nicht an meinem allerherzlichsten Anteil, so als Ihr und der Ihrigen pflichttreuer Arzt, wie in der aufrichtigsten Ergebenheit für Ihre Person. In dieser Beziehung erlaube ich es mir, und kann Sie nicht scheiden sehen, ohne noch vorher kurz meine Gedanken besonders über die Prädisposition und die Ursachen zu der Krankheit Ihrer Frau Gemahlin hier niedergelegt zu haben, die vielleicht noch dazu dienen könnten, dem jetzigen Arzt das Krankheitsbild zu vervollständigen und seinen Kurplan zu ergänzen. In erster Hinsicht, in Bezug der Prädisposition zur Krankheit nämlich, bitte ich ganz gehorsamst den behandelnden Arzt geneigtest aufmerksam machen zu wollen, dass Frau Gräfin Exzellenz sanguinisch-cholerischen Temperaments, dabei sehr nervöser Konstitution waren, bei der sich neben einer Fülle des Gemüts für alles Schöne und Gute auch immer auch eine besondere Neigung zu außerordentlichen Dingen bemerklich machte, manches oft schnell aufgefasst und eine Zeitlang konsequent verfolgt wurde, um bald ebenso schnell wieder anderen Ideen oder Beschäftigungen Platz zu machen, so dass es mitunter fast schien, als fehle ein fester bestimmter Zielpunkt für das fast immer rege geistige Leben. Nur in einer Beziehung glaube ich Frau Gräfin Exzellenz immer fest und konsequent gefunden zu haben, in ihrem frommen Sinne nämlich für alles Religiöse, ja es schien mir dieser besonders in der letzten Zeit eine zu sentimentale, fast eine schwärmerisch- mystische Seite angenommen zu haben. Wenn hierin ein starker Keim zur nachherigen Geisteskrankheit gesucht werden muss, so ist nicht zu übersehen, dass richtige körperliche Störungen der letzteren Zeit den Ausbruch derselben nur umso gewisser herbeizuführen im Stande waren. Ew. Exzellenz wissen, dass dero Frau Gemahlin seit einigen Jahren schon an Hämorrhoidalbeschwerden litten, an einem Zustand, der, so lästig er Frau Gräfin vorkam, hier doch für einen relativ wohltätigen gehalten werden musste, indem er dazu diente, die hier stattfindende wahre Blutüberfüllung des Unterleibs umso mehr zu mäßigen und abzuleiten, als die monatliche Periode stets unregelmäßig, zu selten und zu schwach erschien. Schon oft habe ich mir erlaubt, Ew. Exzellenz vorzugsweise auf diesen Punkt hinzuleiten, und darauf aufmerksam zu machen, dass dieser Zustand durch eiskalte Wasserklistiere nicht nur selbst gewaltsam zurückgedrängt, sondern dabei zugleich auch die Regeln vollkommen unterdrückt wurden, und zwar in einer Zeit, in der Frau Gräfin kurz vorher erst von einem Möglicherweise Folge eines rheumatischen Fiebers nach deren Scharlacherkrankung. Dabei kann es zu einer Entzündung verschiedener Organsysteme, darunter auch Herz und Gehirnkommen.
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mit Leber- und Hirnhautentzündung komponierten höchst hitzigen Scharlachfieber
genesen waren und es gerade dringend nötig erschien, dass diese beiden vorbemerkten  Ein Wort unleserlich [...] eher gefördert, als unterdrückt worden wären. Dass letzteres gewaltsam auf dem angeführten Wege geschehen ist, weiß ich aus dem Munde der Frau Gräfin selbst.

Ew. Exzellenz erlaube ich mir gehorsamst zu bitten, den behandelnden Arzt ganz besonders auf diese letzten Punkte aufmerksam zu machen, indem ich umso mehr glaube, dass dieselben den materiellen Anlass zur Geisteskrankheit abgegeben haben, als dieselbe sich bald darauf gezeigt hat.

Hierbei nur noch die ganz gehorsamste Bemerkung, wie es mir bei meinen kurzen und flüchtigen Beobachtungen geschienen, als habe die Krankheit in der ersten Zeit sich mehr der Melancholie mit religiöser Tendenz, später mehr dem partiellen Wahnsinn genähert, obwohl ich dabei eben wegen Mangel an Beobachtung und Mitteilung über den Verlauf der Leidens mich über den pathologischen Zusammenhang dieses veränderten Zustandes nicht weiter auslassen kann.

Möchten Ew. Exzellenz in diesen wenigen Bemerkungen, die dem Arzte, wie ich hoffe, von wichtiger Bedeutung werden können, meinen redlichen Willen erkennen, dass ich gern auch ein kleines Scherflein zu einer Kur beitragen möchte, die so höchst schwierig ist und dabei leider nur schwache Hoffnungen eines günstigen Erfolges verspricht.

Genehmigen Hochdieselben die Versicherung meiner vorzüglichsten und vollkommensten Hochachtung, mit der ich die Ehre habe zu sein

Ew. Exzellenz ganz gehorsamster Diener G. Schillinger

Zitierhinweis

G. Schillinger an Carl Friedrich Ludwig Graf von Lehndorff. Angerburg, 18. September 1838. In: Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Bearbeitet von Gaby Huch. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. URL: lebenswelten-lehndorff.bbaw.de/lehndorff_i2g_pyw_43b