Waldheim, Anstaltstraße 1, 15.5.1950

Lieber Genosse Lindner,

obwohl es schon beinahe Mitternacht ist, möchte ich doch nicht unterlassen, Dir von einem Sonntagsausflug zu berichten, der Dich sicher interessieren wird.

Da der Sonntag der einzige Tag ist, der mir selbst gehört und da der gestrige Sonntag außerdem ein wirklich sonniger Tag war, machte ich mich mit einigen Genossinnen und Genossen auf den Weg zur Talsperre Kriebstein. Auf dem Rückweg besuchten wir auch die Burg Kriebstein und nahmen an einer Führung teil. Ja, und was glaubst Du, was uns der Mann, der dort diese Führungen zu leiten hatte, erzählte? „Diese Burg wurde zum Schutze des deutschen Siedlertums von dem 'edlen Ritter' Sowieso erbaut“, so fing es an und so ging es weiter. Stelle Dir vor, dieser alte Zopf wird heute noch, 5 Jahre nach dem Zusammenbruch, weiter gesponnen. Also wir waren so sprachlos. Von Seiten unserer Genossen, die mit mir dort waren, wurde selbstverständlich klar und deutlich diesem Mann zu verstehen gegeben, dass das, was er sagte, ganz falsch sei. Was nützt es, wenn man in Landesparteischulen, in Verwaltungsschulen oder sonstwo die ganze Entwicklung der menschlichen Gesellschaft gelehrt bekommt, also die Zeit des Feudalismus – Leibeigenschaft – Frondienst usw. genau kennt, wenn es noch Menschen gibt, die das Herrentum der damaligen Zeit verherrlichen? Bedenke, es kommen Schulklassen, Jugendliche dahin und bekommen das Gift dieses Ideologen eingeimpft.

Ich bin überzeugt, dass auch in anderen alten Burgen im Land Sachsen noch solche Führungen, die getragen sind von jenem Geist, stattfinden, und ich fühle es als meine Pflicht, insbesondere als ich Mitarbeiterin der Abteilung Kunst und Literatur im Ministerium für Volksbildung des Landes Sachsen bin, diese Feststellung euch mitzuteilen.

Wäre es nicht ratsam, diese Menschen, denen diese Führungen in alten Schlössern und Burgen bis jetzt anvertraut waren bzw. die mit diesen Führungen beauftragt sind, einmal gründlich unter die Lupe zu nehmen? Das zuständige Referat sollte sich doch einmal mit dieser Aufgabe beschäftigen, Wachsamkeit ist überall am Platz!

Das war der Grund meines heutigen Schreibens. Ich bin eigentlich ganz froh, dass wir zum Wochenende nicht heimfahren dürfen, erstens einmal ist der Sonnabend wie jeder andere Arbeitstag, also es wird bis abends 19, 20 und länger gearbeitet und es wäre nur eine Hetzerei, wenn man dann noch heimfahren würde, und 2. man hat so den Sonntag zur wirklichen Erholung und kann die Umgebung von Waldheim, die eine wirklich schöne ist, richtig genießen und richtig kennenlernen. Sie ist es wirklich wert, kennengelernt zu werden.

Damit will ich meinen Brief schließen.

Mit sozialistischem und kollegialem Gruß Erna Voigt

Zitierhinweis

Erna Voigt an den Genossen Lindner. Waldheim, 15. Mai 1950. In: Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Bearbeitet von Gaby Huch. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. URL: lebenswelten-lehndorff.bbaw.de/lehndorff_gvm_4rn_xdb