Die Heimat – ein von Gott anvertrautes Pfand

Graf Lehndorff nimmt Stellung

Dr. med. Hans Graf v. Lehndorff, Bad Godesberg, der bekannte Verfasser des  Lehndorff, Hans Graf v., Ostpreußisches Tagebuch. Aufzeichnungen eines Arztes aus den Jahren 1945 bis 1947, 8. Aufl., München 1961.
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„Ostpreußischen Tagebuchs“
, Mitglied der Gemeinschaft evangelischer Ostpreußen, antwortete auf die Frage, ob es stimme, dass er „auf Ostpreußen verzichtet habe“, unter anderem:

„Natürlich ist es unsinnig zu behaupten, ich hätte auf Ostpreußen verzichtet. Erstens bin ich gar nicht dazu aufgefordert worden und zweitens würde ich es auch nicht tun. Ein paar Sätze, die ich bei zwei bestimmten Gelegenheiten – Fernseh-Interview und in der Frankfurter Ansprache – geäußert habe, sind aus dem Zusammenhang gerissen und außerdem noch falsch zitiert worden. Das sind die beiden einzigen Male, bei denen ich mich zur Frage Ostpreußen öffentlich geäußert habe. Finden Sie, dass darin schon ein Verzicht liegt? Geht es Ihnen nicht auch so, dass Sie eine heilige Scheu davor empfinden, mit einzustimmen in den lauten Chor derer, die jede Mitverantwortung an dem, was das Hitlerdeutschland in der Welt angerichtet hat, einfach leugnen und behaupten, uns – und nur uns – sei bitteres Unrecht geschehen? Dazu ist mir meine Heimat einfach zu schade. Ich sehe sie nicht als meinen Besitz an, mit dem ich nach eigenem Ermessen umspringen kann, sondern als ein mir von Gott anvertrautes Pfand, für das ich ihm Rechenschaft schuldig bin.

Unsere Väter waren bescheidene Leute, die sich ihrer Verantwortung bewusst waren. Zu unserer Zeit aber hat man das Maul aufgerissen und sich hinweggesetzt über alle Grenzen, die einem christlich orientierten Volk geboten sind. Ein Barbarenvolk kann sich so etwas vielleicht ungestraft leisten. Bei uns ist das nicht denkbar. Es war durchaus kein „blindes Schicksal“, was in der Gestalt des Dritten Reiches sich austobte – diese oft gehörte These ist töricht und gefährlich –, sondern jeder hat zu seinem kleineren oder größeren Teil dazu beigetragen, dass alles überhaupt soweit kommen konnte.

Das muss erst begriffen werden, wenn wir ein richtiges Verhältnis zur verlorenen Heimat wiedergewinnen wollen. Der Osten ist ein sehr kostbares Land. Ihn zu gewinnen und auch festzuhalten, dazu hat es zu allen Zeiten eines besonderen Geistes bedurft, eines Geistes, der die höchsten menschlichen Qualitäten auf den Plan ruft. Ohne einen solchen Geist ist der Osten für uns nicht zu haben, heute weniger als je. Wer ohne Sinnesänderung, ohne neuen Auftrag zurückgeht, für den wird die Heimat eine große Enttäuschung sein. Sie wird sich ihm nicht erschließen, und das ist richtig so.

Meinen Standpunkt zur Frage der Rückkehr habe ich in den Jahren nach dem Zusammenbruch gewonnen, in denen es mir vergönnt war, einer der letzten zu sein, die sich dort noch mit einer gewissen Freiheit bewegen konnten und deshalb in der Lage waren, geistige Konsequenzen zu ziehen. Und ich vertrete ihn heute um so überzeugender, als ich zwei Söhne habe und es für durchaus möglich halte, dass wir eines Tages doch wieder zurückkehren können. Dass wir innerlich mit unserer Heimat verbunden bleiben und nicht müde werden, darauf hinzuweisen, dass es sich um urdeutsches Land handelt, ist mir selbstverständlich. Nur fordern – das kann ich nicht.“

Zitierhinweis

Zeitungsartikel. 1960. In: Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Bearbeitet von Gaby Huch. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. URL: lebenswelten-lehndorff.bbaw.de/lehndorff_ubh_s2g_2cb