Odessa, den 24. Oktober 1883
Adr. Hr. Fichtenholz
Nach dem gregorianischen
Kalender schrieb sie am 5. November; Lehndorff war am 28. Oktober
verstorben.
[Schließen]Sogar in dem fernen Odessa hat mich durch die Zeitung die traurige Kunde
von dem Tode des Herrn Grafen
erreicht. Wie unerwartet sie mir kam, da ich ja so lange
nichts von Ihnen allen gehört und daher auch von einer Krankheit Ihres Herrn
Gemahls nichts ahnte, können Sie sich denken! Mit einem Schlage fühlte ich mich
zurückversetzt in die in Ihrem Hause verlebte Zeit, und ich empfand den großen
Verlust, den Sie erlitten, so lebhaft mit, als ob es mir noch vergönnt gewesen
wäre, mit Ihnen zusammen zu sein. Arme, liebe Frau Gräfin, wie hart mag Sie alle
dieser schwere Schlag getroffen haben, selbst wenn eine längere Krankheit Sie
darauf vorbereitet hat! Wenn Sie ja auch nicht trauern wie die, die keine
Hoffnung haben, so ist doch eine Trennung für dieses
Leben das Schwerste und Bitterste, was es geben kann, und Worte des Trostes sind
so eitel, so vergeblich - wie gerne küsste ich lieber schweigend in inniger
Liebe und Teilnahme Ihre liebe Hand! und sagte Ihnen so ohne Worte, was ich mit
diesen nicht auszudrücken vermag.
Kaum weiß ich, ob ich Sie mit meinen Gedanken noch in an der
französischen Côte d’Azur. Vgl. zum Todesort die Anmerkungen zum Nachruf
vom Oktober 1883.
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Mentone
oder im alten lieben Steinort suchen
soll. Es war sehr unrecht von mir, dass ich für Ihren letzten lieben Brief und
die darin bewiesene Teilnahme Ihnen nicht gleich gedankt habe, aber ich bin in
den letzten Jahren eine sehr schlechte und lässige Briefschreiberin geworden.
Nachdem ich mich bei meinen Geschwistern erholt, wurde mir im August 82 eine
Stelle in einer Familie hier in Odessa am schwarzen Meer angeboten, und da der
Arzt immer einen gänzlichen Wechsel des Klimas als heilsam für mich erklärt
hatte, so nahm ich dieselbe an, und bin zwar nicht ganz gesund und trage mein
Kreuz immer mit mir umher, aber ich kann doch meiner Pflicht genügen und meinen
Beruf ausfüllen, und dafür bin ich Gott von Herzen dankbar.
Gewiss, teure Frau Gräfin, werden Sie in diesen schweren Tagen an Ihren Kindern einen rechten Trost und eine Stütze haben. Graf Carl ist nun ja auch schon in einem Alter, wo man anfängt, den Ernst und die Verantwortlichkeit des Lebens und seiner Anforderungen zu begreifen. Vielleicht finden Komtess Annie oder Agnes mal ein Halbstündchen, um mir von Ihrem Ergehen zu erzählen, ich bitte recht herzlich darum.
Gott stärke und tröste Sie alle in dieser Zeit der Trübsal - könnte ich doch sie Ihnen tragen helfen.
Im Geiste Ihre Hand küssend, liebe verehrte Frau Gräfin, bleibe ich allezeitIhre dankbar ergebene Helene Wüstenfeld
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