Schönebeck, 28. Juli 1946

Sehr geehrte Frau Huch,

von Herzen möchte ich Ihnen für Ihre Anfrage danken, ebenso aber auch für Ihre Worte  Der Plan, ein Gedenkbuch für die ‚Märtyrer der Freiheit' zu verfassen, entstand unmittelbar nach dem Scheitern des Attentats vom 20. Juli 1944. Aus dieser Zeit stammt das Gedicht ‚An unsere Märtyrer“, das unter den Angehörigen der Hingerichteten 1944 kursierte und nach dem Krieg in die 2. Auflage der Gedichtsammlung „Herbstfeuer“ aufgenommen wurde, vgl. Huch, Gedenkbuch, S. 27 und S. 54, Anm. 41-42. Durch deren Tod am 17. November 1947 blieb das Gedenkbuch unvollständig, auch der Aufsatz über Heinrich Graf Lehndorff wurde nicht mehr fertiggestellt.
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„An unsere Märtyrer“
– in einer Zeitung, die mir zugesandt wurde. Ganz still habe ich gewartet, bis einmal ein Mensch diese Dinge, um die diese Männer und Frauen gelebt und gekämpft haben, berühren würde. Unendlich glücklich haben Sie mich gemacht, weil ich aus Ihren Worten all das gelesen habe, wonach ich mich sehnte. Wir sind verpflichtet, für unser armes, zerbrochenes Deutschland die Bilder dieser Männer festzuhalten, unserer Jugend zu zeigen, wie verantwortungsvolle Deutsche gedacht, gekämpft und gestorben sind. Wie schön ist es für Sie in der augenblicklichen Lage Deutschlands zu wissen, dass auch unsere Zeit imstande war, solche Menschen hervorzubringen, wie wir sie nur aus der Vergangenheit kannten.

Es ist schwer für mich, Ihnen, verehrte Frau Huch, alles das zu schreiben, was in meinem Herzen glüht. Wie viel schöner würde es sein, wenn ich es Ihnen erzählen könnte. Aber ich will es versuchen und lege Ihnen einen  Siehe das Dokument vom 3. September 1944.
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Auszug des Abschiedsbriefes meines Mannes
bei, denn seine Worte werden mehr sagen könne als ich …

Weiter habe ich Ihnen eine kurze von mir verfasste Lebensbeschreibung meines Mannes beigefügt, die ich für einen guten Freund von uns gemacht habe, Fabian von Schlabrendorff, mit dem mein Mann eng zusammenarbeitete und der wie durch ein Wunder am Leben geblieben ist. Er hat ein Buch geschrieben, das in der Schweiz verlegt worden ist und  Schlabrendorff, Fabian von, Offiziere gegen Hitler, Frankfurt am Mai 1961.
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„Offiziere gegen Hitler“
genannt ist. Er hat darin wohl mit diese Zeilen verwendet. Mir kam es dabei hauptsächlich darauf an, ihn so zu schildern, wie er im Gegensatz zu vielen anderen war. Seine Erkenntnis, dass Hitler unser Volk in den Abgrund führte, entsprang nicht etwa dem politischen Denken und damit dem Verstand allein, sondern in der Hauptsache dem sicheren Instinkt, wie ein Stück Wild etwa die Gefahr wittert. Sie erfasste ihn immer mehr und nahm schließlich ganz von ihm Besitz. Seine oft jungenhafte Heiterkeit, seine große Lebenslust wandelte sich allmählich und machte aus ihm einen ernsten, von tiefer Verantwortung bewegten Menschen. Da wir unendlich glücklich zusammen waren, wussten wir beide, welch' schweren Weg er angetreten hatte, als er sich dieser Bewegung anschloss. Aber es war wie ein stillschweigendes Abkommen, dass wir niemals die Angstgefühle um die Kinder und uns berührten. Er war sich klar über sein Handeln, nicht irgendwelche Vorstellungen trieben ihn, sondern ein glühendes Herz für Recht und Gerechtigkeit, für die ewigen Gesetze, die über alle Bosheit, über Hass und Vernichtung triumphieren, erfüllt von der Gnade Gottes. Mochte es auch noch so aussichtslos erscheinen, mochten die Angriffe auch noch so stark sein, er hat sie durchgestanden. Aber wir waren jung, hatten einen herrlichen Besitz in Ostpreußen, Kinder, die wir über alles liebten, und es schien manchmal als wenn wir erlahmen würden, weil die Angst kam. Und es war dann wunderbar, wie er sie mit einem Wort wegwischen konnte und ich mir erbärmlich vorkam. Es gehört zu meinen schönsten Erinnerungen, wenn ich an die Abende und Nächte zurückdenke, wo diese Männer zusammensaßen bei uns, nur erfüllt von dem einen Gedanken, wie können wir Deutschland retten vor dem Abgrund. Wie sie gegenseitig sich hielten und durch diese Aussprachen sich gegenseitig stärkten und ihre Verantwortung immer mehr wuchs. Sie wollten Deutschland vor dem Schlimmsten retten, das Schicksal wollte es nicht. Es führte uns bis auf den Grund des Abgrundes. Doch nur dann sind alle vergebens gestorben – vor allem die Millionen tapferer Soldaten – wenn wir nun alles dort stehen lassen, wo es im Augenblick steht. Wir müssen Deutschland dahin führen, wohin diese Menschen es führen wollten. Wir müssen ihnen wieder beibringen, weil sie es leider vergessen haben, dass der wirkliche deutsche Mensch nicht ein Hitler, sondern ein Luther, Kant, Goethe, Schiller oder Beethoven ist. Dass Deutschlands Stärke nicht in machtvollem Staatsgefüge besteht, sondern in seiner geistigen und seelischen Potenz. Wir müssen den deutschen Menschen vor allem wieder zu Christus zurückführen, ihn verstehen lehren, dass unter allen Umständen zunächst an Stelle des Wortes Vergeltung das Wort Vergebung zu treten hat, dass Liebe keine Schwäche ist, dass Hingebung allein die Welt besiegt. Und wenn diese Männer durch ihr Sterben, durch ihre Hingebung an diese Idee, mit allem, was sie besaßen, ein klein wenig dazu helfen können, so ist Unendliches getan. Und darum bin ich so sehr glücklich, dass gerade Sie, verehrte Frau Huch, darüber etwas zusammenstellen wollen. Ich glaube, dass wir alle es nicht in bessere Hände legen können.

Verzeihen Sie mir meine vielen Worte, aber ich bin innerlich so erfüllt davon und kann nur in diesem Glauben, indem ich einen tiefen Sinn in das bewusste Sterben dieser Männer lege, einen neuen Sinn in mein Leben bringen. Ich weiß, dass ich mir ein Schloss in den Wolken aufgebaut habe, das schwer mit dem täglichen Leben unserer Zeit zu vereinbaren ist, aber es macht mich täglich zufriedener und glücklicher. Wie soll man es sonst fassen, was da vor sich gegangen ist, eng zusammengepresst in wenige Jahre, dieses nicht enden wollende Sterben, diese Vernichtung aller Geschichte und Vergangenheit, diese Auflösung aller natürlichen Ordnungen.

Es ist nur eins, was man in dieser Zeit wirklich gelernt hat: dass dies unsere Heimat nicht ist, sondern eine flüchtige Wohnstätte, die der eine früher, der andere später verlässt. Und was bedeutet schon diese Spanne zwischen jenem früher und später: tausend Jahre sind dir wie ein Tag, der gestern vergangen ist. Und es bleibt die Gewissheit einer Wiedervereinigung mit ihnen in jener besseren Welt, in der sie glücklich sind.

Mein Mann wurde – um Ihnen noch kurz die Zeit nach dem 20. Juli zu schildern – am 21. Juli auf unserem Besitz Steinort verhaftet, 14 Tage in Königsberg ins Gefängnis gesperrt, nach Berlin überführt, dort machte er einen Fluchtversuch, wurde nach 4 Tagen wieder gefasst, am 4. September von dem Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und an demselben Tage hingerichtet.  Gottliebe von Lehndorff war am 23. Juli 1944 aus dem Kreis Königsberg verwiesen worden. Daraufhin ging sie nach Graditz, Anfang August wurde sie ins Gefängnis Torgau gebracht, vgl. Vollmer, Doppelleben.
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Meine   Manfred und Harriett von Lehndorff
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Schwiegereltern
und ich wurden im Zuge der 'Sippensühne' ebenfalls verhaftet und ins Gefängnis gebracht.
Ich schenkte dort meiner vierten Tochter das Leben. Meine   Marie-Eleonore, Vera, Gabriele
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drei anderen kleinen Töchter
im Alter von 7 bis 1 Jahren wurden mir ebenso für drei Monate fortgenommen und an einen Platz gebracht, von dem ich nichts wusste. Gottlob sind sie mir aber unversehrt wieder zurückgegeben worden.

Wir leben jetzt hier bei einer  Bei Lexi Roloff, vgl. Lohmann, Heinrich, Der Bremer Fichtenhof und seine Bewoher. Ein wenig bekanntes Kapitel aus dem deutschen Widerstand, Bremen 2018.
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Cousine
von mir fast auf dem Lande bei Bremen und ich hoffe, bald wieder ein Stück Land zu bekomme, um für meine Kinder und mich eine neue Heimat zu finden. Ob wir unseren Besitz in Ostpreußen jemals wiedersehen, können wir heute noch nicht beurteilen. Unendliches Heimweh nach diesem geliebten Stück Erde erfasst einen nur zu oft.

Ich hoffe so sehr, Ihnen einen kleinen Einblick gegeben zu haben. Ich konnte es nicht besser. Ich drücke Ihnen warm die Hand und begleite mit großer Wärme und Liebe Ihre Aufzeichnungen, die Sie einmal von diesen Menschen machen werden. Haben Sie innigsten Dank.

Ihre Gottliebe Lehndorff

Zitierhinweis

Gottliebe Gräfin von Lehndorff an Ricarda Huch. Schönebeck, 28. Juli 1946. In: Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Bearbeitet von Gaby Huch. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. URL: lebenswelten-lehndorff.bbaw.de/lehndorff_uy5_j41_dy