Editorische Auslassung [...] Steinort, der Stammsitz meiner Familie im Bereich der masurischen Seen, stand zu meiner Kinder- und Jugendzeit ganz im Zeichen seines damaligen Besitzers, meines Patenonkels Carol Lehndorff, eines Vetters meines Vaters. Er war Junggeselle und hatte schon von früher Jugend an durch seine Streiche von sich reden gemacht.
Nach dem verhältnismäßig frühen Tod seines Vaters, der Steinort
vor ihm besaß, hatte seine Mutter ihre
liebe Not mit ihm gehabt und immer wieder versucht, sein Leben in geordnete
Bahnen zu lenken. Dass ihr das nicht gelungen ist, beweisen die Vgl.
Klootboom, Klaus, Der Carol. Ein halbes Schock schockierender Schwänke
aus dem Leben des Carol Sassenburg, Würzburg 2004; Ders., Der neue
Carol. Ein Halbschock neuer schockierender Schwänke aus dem Leben des
Grafen Carol Sassenburg,Würzburg 2005.
[Schließen]Abenteuer, die er sich in den verschiedensten Ländern
der Erde geleistet hat.
Editorische Auslassung [...]
Da die Ebd., S. 26 ff.
[Schließen]Idee mit dem Extrazug, auf die er später
noch öfter zurückkam, nur einer von vielen Geistesblitzen war, die Onkel Carol
in die Tat umsetze, steckte er begreiflicherweise tief in Schulden, für die auch
ein Besitz wie Steinort auf die Dauer nicht geradestehen konnte, und der
Familienrat musste immer wieder zusammentreten um zu überlegen, wie man seinen
Tatendrang zügeln könnte. Das ist nur unvollständig gelungen. Vielmehr taten
sich bis in sein Alter hinein in seiner Umgebung lauter Dinge, die man anderswo
nicht zu erleben pflegte. Wir Kinder haben noch manches davon mitbekommen.
Selbst wenn er uns in Graditz
besuchte, brachte er in den sonst so akkurat und pünktlich funktionierenden
Haushalt einen Wirbel, der sich erst nach Tagen wieder legte. Jedesmal wurden
wir reich beschenkt mit Genüssen, die wir sonst nur zu Weihnachten zu sehen
bekamen, und seine Unterhaltungen waren geeignet, jede elterliche Autorität zu
untergraben. Dabei hatte er - das merkten wir genau - große Hochachtung für
meine Mutter. Aber es lockte ihn, jeden
erwachsenen Menschen auf die Probe zu stellen, ihn sozusagen auf die Palme zu
bringen und zu verunsichern. Nur mit meinem Vater, der ihn von Jugend auf kannte und nicht viel jünger war
als er, versuchte er das nicht, weil der sich nicht scheute, ihm gehörig eins
draufzugeben.
Als ich zehn war, fuhr mein Vater mit Heinfried und mir zum ersten Mal nach Steinort. Onkel Carol war verreist, aber
sein Haus mit allem Drum und Dran war ein Abbild seiner Persönlichkeit. Schon
die Fahrt dorthin hatte mich tief beeindruckt. Wir wurden in der Kreisstadt
Angerburg von der Bahn abgeholt
und hatten von dort fast zwei Stunden mit dem Wagen zu fahren. Die Beine der
Pferde waren bis zu den Knien mit Lehm beschmiert, woraus wir Rückschlüsse auf
den Zustand der Wege ziehen konnten, die vor uns lagen. Zuerst ging es lange auf
einer festen Straße durch hügeliges Gelände, von dessen Höhen man immer wieder
die riesige Fläche des Mauersees mit seinen Inseln und Buchten überblicken
konnte. Dann bog die Straße um den nördlichen Ausläufer des Sees herum nach
Süden ab und führte durch den Ort Stawisken, der schon zu Steinort gehörte. Trotzdem hatten wir
noch eine gute Stunde Fahrt vor uns, zunächst lange Zeit durch Wald. Himmelhohe
Fichten, unter deren Schirmdach sich fast nächtliches Dunkel ausbreitete,
wechselten ab mit Eichenbeständen, Erlenbrüchen und schmalen Lichtungen, auf
denen gelegentlich ein Reh oder ein Stück Damwild zu sehen war. Auf den
ungepflasterten Wegen sanken die Wagenräder bis zur Mitte in den Lehm ein, und
mehr als einmal drohte der Wagen umzukippen. Immer wieder lehnte man sich
instinktiv nach der entgegengesetzten Seite, um ihn ins Gleichgewicht zu
bringen. Wir passierten die Orte Stobben und Kittlitz
und fuhren dann noch ein langes Wegstück durch die vielen Löcher bis zu einer
kleinen Anhöhe. Dort begann eine schnurgerade Allee alter Eichen, an deren Ende
die roten Dächer von Steinort
zwischen den Baumkronen schimmerten. Wieder auf festem Boden angekommen,
entschlossen sich die Pferde noch ein letztes Mal zu schnellerer Gangart, bis
das Dorf erreicht war, das sich zu beiden Seiten der Straße hinzog. Nochmal kam
eine kleine Anhöhe, oben wendete der Wagen nach links und hielt vor einem
langgestreckten, grauen, schmucklosen Gebäude, das einen wenig gepflegten
Eindruck machte. Uns Kindern erschien es sogar etwas düster. Die Haustür öffnete
sich, und wir traten zu ebener Erde in eine große Halle mit einem Fußboden aus
riesigen, schon ziemlich abgenutzten Dielen. An den Wänden hingen
Familienporträts aus früheren Zeiten, dazwischen ausgestopfte Elchköpfe. Rechts
und links führte je eine breite Holztreppe mit sanfter Steigung bis zur halben
Höhe der unteren Raumhälfte. Dort bildeten beide einen Absatz, wandten sich
einander zu und vereinigten sich zu einer einzigen, in entgegengesetzter
Richtung hochführenden Treppe. Wenn Onkel Carol zu Hause war, stand er oben auf
dem Podest, an ein Diese stammte bereit aus dem Anfang des 19.
Jahrhunderts, siehe das Dokument vom 12. Oktober 1808.
[Schließen]Billard gelehnt, und empfing die
heraufkommenden Gäste mit einem Zuruf, der sie zugleich darauf aufmerksam
machte, dass die oberste Stufe wesentlich höher sei als die übrigen. Das konnte,
wenn man, den Blick nach oben gerichtet, hinaufstieg, leicht übersehen werden
und zu einem unbeabsichtigten Kniefall führen. Oben angekommen, bekam jeder
Gast, ganz gleich welchen Alters, ein Glas Portwein und eine Schachtel
Streichhölzer in die Hand. Auch wir Kinder bildeten keine Ausnahme von dieser
Regel, was sehr zur Hebung unseres Selbstbewusstseins beitrug.
Da das Haus schon jahrzehntelang keine verantwortliche Hausfrau mehr unter seinem
Dach gehabt hatte, befand es sich in einem abenteuerlichen Zustand. Wir Kinder
wohnten in einem riesigen Raum rechts neben der Eingangshalle, den wir die
Reitbahn nannten. Darin standen mindestens vier Betten einfachster Machart mit
entsprechenden Nachttischen, auf jedem ein Leuchter mit Kerze. Die Matratzen
waren hart, die Decke so fest gestopft, dass sie wie ein Brett auf einem lag und
der Wind auf beiden Seiten durchpfiff. Nachts rutschte sie dauernd aus dem Bett.
Wir dachten uns alles mögliche aus, um sie festzuhalten, kamen aber nie richtig
zum Schlafen. Auf dem Fußboden lagen mehrere Pferdefelle, eins von einer
Fliegenschimmelstute, die einmal ein gute Rennpferd gewesen war. An den Wänden,
von denen sich die Tapeten ablösten, hingen Bilder, meist eingerahmte
Photographien, in merkwürdiger Anordnung. Wenn man sie anhob, sah man dahinter
ein Loch in der Wand, aus dem einem Spinnen entgegentaumelten. Die Nachttöpfe
waren nicht immer leer. In der Dönhoffstube im ersten Stock, in der mein Vater
wohnte, hatte das alte Mahagonibett nur zwei Füße. Die beiden anderen waren
durch eine Steinsäule ersetzt, die Onkel Carol aus Ägypten mitgebracht hatte.
Neben dieser Stube lag ein schönes großes Eckzimmer, die Bischofsstube. Dort
hing an der Wand über den Betten ein riesiges Es war 1866 gemalt worden,
siehe das Dokument vom 22. Dezember
1866.
[Schließen]Gemälde,
das einen typisch Lehndorffisch aussehenden Bischof im Ornat mit Krummstab
darstellte. Den hatte es im 16. Jahrhundert tatsächlich
gegeben. Da man aber nicht wusste, wie er aussah, war er nach den genauen
Angaben und Wünschen von Onkel Carols Mutter gemalt worden. Angeblich spukte er auch im Hause, wir
haben ihn aber nie gesehen. Als mein Vater und ich einmal in sehr heißen
Sommertagen in Steinort nächtigten, wachten wir bei Tagesanbruch von einem
eigentümlichen Klopfen auf. Es war aber nicht der Bischof, der dieses Geräusch
verursachte, sondern es saßen Puten auf den äußeren Fensterbrettern und pickten
die Fliegen von den Scheiben. Das große Esszimmer, ein langgestreckter Raum,
hatte nur an der Schmalseite ein Fenster, das man nicht öffnen konnte, weil im
Fensterrahmen ein Baumpilz wuchs. An der Längswand neben dem Fenster hing ein
herrliches Bild meiner Urgroßmutter Lehndorff,
geb. Schlippenbach, in einer überdachten Gondel in Venedig, und
an der Wand gegenüber ein Portät ihres Mannes in Generalsuniform, im freien Feld auf einem Baumstumpf
sitzend. In den Wohnzimmern hingen andere schöne Familienbilder, daneben
hervorragende zeitgenössische Porträts von Mitglieder der preußischen
Königsfamilie, von der Mutter Friedrichs des Großen, von Königin Luise, Siehe
hierzu Schultze, Lebensbild, S. 60 ff.
[Schließen]Prinz Louis Ferdinand von Preußen, der mit meinem
Urgroßvater eng befreundet war. Mit den Porträts
konkurrierten in aufregender Weise die Gobelins an den Wänden, alles Szenen aus
der alttestamentlichen Simson-Geschichte. In dem Zimmer, in dem man nach den
Mahlzeiten zu sitzen pflegte, fiel der Blick auf Simson, dem die Augen
ausgestochen werden. Neben diesen Gobelins stand eine Uhr, die alle Stunde das
Lied von sich gab „Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab, und
weiche keinen Finger breit von Gottes Wegen ab.‟ Einmal war ein Gast da, der
sich für solche alten Uhren besonders interessierte. Als niemand im Zimmer war,
sah er sich die Standuhr genau an und fand heraus, dass sie noch elf andere
Lieder spielen konnte, was offenbar niemandem bekannt war. Um Onkel Carol zu
überraschen, stellte er die Uhr auf ein anderes Lied ein. Der war aber gar nicht
für solche Scherze zu haben. Er ließ den Mann umgehend seinen Koffer packen und
schickte ihn zum sechs Kilometer entfernten Bahnhof Groß Steinort, von wo nur
selten ein Personenzug verkehrte.
Editorische Auslassung [...]
Einer der größten Räume im Obergeschoss war das zur Parkseite gelegene hintere Turmzimmer.
Über das Innere von
Steinort ist nur wenig überliefert, vor allem durch Carl von Lorck, der mit Anni von Schrötter, der Enkelin
Anna von Lehndorffs
verheiratet war und Seehof-Steinort bewohnte, Vgl. Lorck, Carl E. v., Die
Deutschen Herrenhäuser, Bd. 1: Herrenhäuser Ostpreußens, Bauart und
Kulturgehalt, Königsberg 1933; Ders., Groß Steinort. Der Bauvorgang
eines Barockschlosses im deutschen Osten, Pillkallen 1937; Ders., Neue
Forschungen über die Landschlösser und Gutshäuser in Ost- und
Westpreußen, Frankfurt am Main 1969 (Schriften des Norddeutschen
Kulturwerk).
[Schließen]Die schönsten Zimmer in Steinort lagen parterre auf der
Parkseite. Sie hatten wunderbare Parkettböden aus
verschiedenfarbigem Holz und waren mit vergoldeten Empire-Möbeln eingerichtet,
Stühlen, Sesseln, Sofas, Schränken, Spiegeln, Kommoden und Etageren für Blumen
und Porzellan. An den Zimmerdecken hingen venezianische Kronleuchter, vor den
Fenstern gestickte Vorhänge.
Ernst Ahasverus
Heinrich von Lehndorff hatte nach seiner Rückkehr von
Berlin nach Steinort mit deren Aufbau begonnen.
Auf Carl Friedrich Ludwig von
Lehndorff gehen Entwürfe für die Einrichtung zurück. Ein Umbau erfiolgte 1856.
[Schließen]Die anschließende
Bibliothek hatte Glasschränke im gleichen Stil. Diese Räume
waren aber seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt worden und daher völlig
verstaubt, die Vorhänge und Möbelbezüge von Motten zerfressen, die Spiegel
blind, die Porzellanstücke zerschlagen Oder im Zuge der Zwangsverwaltung verpackt und nach Königsberg an die
Generallandschaft gebracht worden, vgl. das darüber aufgestellte
Inventar vom 5. Januar
1897.
[Schließen]oder von
Besuchern als Andenken mitgenommen. Es war bedrückend, sich beim Anblick dieser
Zimmer auszumalen, wie herrlich man früher darin gelebt haben mochte. Hin und
wieder warfen wir heimlich einen Blick hinein. Onkel Carol selber bewohnte zwei
kleine Zimmer im südlichen Teil des Haues. Dort durften wir ihn gelegentlich
besuchen, was wir mit einigem Bangen taten, weil es uns drinnen eng und stickig
war. Er war aber immer sehr nett zu uns und behandelte uns wie Erwachsene.
Meistens lag er im Bett, einen Kneifer auf der Nase, las, oder besah Münzen und
Münzkataloge. Die Schränke, zwischen denen man hindurchgehen musste, um an sein
Bett zu gelangen, enthielten eine der größten Münzsammlungen, die es damals gab,
zweihundertachtzigtausend Stück, alle brandenburgisch-preußischen Ursprungs. Er
hatte sie im Laufe seines Lebens gesammelt und dabei großes Fachwissen erworben.
Vgl. APO, Bestand 382 FA
Lehndorff, Nr. 173: Korrespondenz mit der Münzhandlung A. Riemann &
Co., ca. 1915.
[Schließen]Ständig korrespondierte er mit Numismatikern und
hatte fast immer einen oder mehrere über Wochen und Monate bei sich zu
Gast.
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