Mein Bildungsgang.
An einem heiteren und sonnigen Morgen, am 22. Juni 1909, wurde ich als Sohn des Rittmeisters Manfred Graf Lehndorff und seiner Gemahlin Harriet, geb. Gräfin Einsiedel, in Hannover geboren. Vielleicht ist dies die Ursache zu meinem lebensfrohen Charakter, der mir Gottlob bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben ist. Ich war erst einen Monat alt, als mein Vater nach Potsdam versetzt wurde. Hier lebten wir dann bis zum Ausbruch des Weltkrieges. Natürlich sind aus dieser Zeit außer Kindheitserinnerungen keine wesentlichen Eindrücke haften geblieben. Als mein Vater in den Krieg ging, zogen meine Mutter, meine Schwester und ich auf unser Familiengut nach Preyl in Ostpreußen, das nun meine Heimat werden sollte. Ich bin also ein ausgesprochenes Landkind. Und so verbrachte ich dann meine Zeit, bis ich von zu Haus fort kam, mit dem zu, was für mich am nächsten lag: Täglich ging ich mit Förster und Inspektor durch den Wald oder die Felder: mein beliebtester Aufenthalt waren die Ställe, und der Tag erschien mir verloren, an dem ich durch irgendwelche Gründe am Reiten gehindert war. Die Liebe zum Pferde ist mir wie allen Angehörigen meines Stammes tief eingewurzelt.
Mit 7 Jahren bekam ich meine erste Hauslehrerin. Aber ich werde ihr und ihren zahlreichen Nachfolgern nicht viel Freude gemacht haben. Ich war ein zu allen Streichen aufgelegter Junge, war stets ein Mensch, der für die Praxis des Lebens mehr übrig hatte als für die Theorie. So kam es, dass die Schule mir damals ein Gräuel war. Erst sehr viel später erkannte ich, dass zunächst die Pflicht kommt und dann das Vergnügen, gleichgültig, ob man diese Pflicht gern erfüllt oder nicht.
Allmählich kam ich dann in die richtigen Flegeljahre. Kein Tag verging, ohne dass ich nicht irgendeinen dummen Jungenstreich vollführte. In dieser Zeit hatten meine Eltern ihre liebe Not mit mir. Meinen Erziehern wuchs ich über den Kopf, und so kam ich dann - um etwas mehr an die Kandare genommen zu werden - mit 13 Jahren auf das Realgymnasium nach Königsberg. Eine sorglose Kinderzeit lag hinter mir, denn trotz meiner Ungezogenheiten ist unser gutes Familienverhältnis nie ernstlich gestört worden. Nun trat der Ernst des Lebens zum ersten Mal an mich heran. Eine aufregende Zeit begann für mich: Täglich fuhr ich von Preyl aus mit dem Rade oder Wagen auf die 7 Kilometer entlegene Bahnstation und von dort aus mit dem Zuge in das 18 km entfernte Königsberg. Diese genau nach der Uhr eingeteilte Tagesordnung behagte mir gar nicht; der Schulwechsel stellte mir erhöhte Anforderungen entgegen und ungewohnte Leistungen wurden verlangt.
Doch ich habe auch man schöne Erinnerung an diese Jahre: Zum ersten Mal in meinem Leben kam ich mit gleichaltrigen Kameraden zusammen, mit denen ich mich bald anfreundete. Ich lernte auf sie Rücksicht nehmen und mich ihnen anpassen. Welch gewaltiger Wendepunkt in meinem Leben! Ich, ein vollkommenes Landkind, inmitten so vieler Städter. Ich merkte in dieser Zeit, dass der Mensch sich auch mit vielen anderen Dingen als nur mit Pferden und Kühen beschäftigen kann. Ich las öfter ein gutes Buch und fand meine Freude daran. Zu dieser Zeit begann ich überhaupt erst zu einem denkenden Menschen zu werden. Mein Pferd und mein Unleserliche Stelle [...] blieben mir aber trotzdem auch weiterhin die treuesten Kameraden.
Zwei Jahre, während der Unter- und Obertertia, besuchte ich dieses Realgymnasium. Durch die vielen Ablenkungen, die sich mir (auch) zu Haus boten, und durch die anstrengenden täglichen Schulfahrten gingen meine bis dahin genügenden Leistungen zurück. So blieb ich dann auf Obertertia sitzen. Doch sollte dies Jahr für mich noch nicht verloren sein. Mein Vater nahm mir einen Hauslehrer, der mich ein halbes Jahr lang gewissenhaft für die Untersekunda vorbereitete. Dieser Lehrer wurde mir bald zum väterlichen Freund. Außer in der Schulzeit war ich auch in meinen Freistunden viel mit ihm zusammen. Gemeinsam ritten wir und durchstreiften mit der Flinte den Wald. Ihm habe ich vor allem in erster Linie mein starkes Interesse für die Politik zu verdanken. Fast täglich unterhielt er sich mit mir über wirtschaftliche und politische Fragen. So habe ich mich schon damals daran gewöhnt, täglich die Zeitungen zu lesen und das Leben der Völker aufmerksam zu verfolgen.
Dieses halbe Jahr verging wie im Fluge. Die Bemühungen meines lieben Lehrers waren von Erfolg gekrönt. Ostern 1925 wurde ich nach glatt bestandener Aufnahmeprüfung in die Untersekunda der Klosterschule zu Roßleben aufgenommen.
Wieder begann jetzt für mich ein vollkommen neues Leben. Welcher Unterschied zwischen einst und jetzt! Zu Hause ein Leben voller Freiheiten und Freuden, im Alumnat zu Roßleben ein ganz ungewohnter Zwang. Kein Wunder, dass ich, der ich damals gerade in den Flegeljahren war, mich gerne über die mir bedrückend und einengend erscheinenden Klosterregeln hinwegsetzte. Jedoch gewöhnte ich mich bald an meine neue Umgebung und Aufgabe. Was mir klösterlicher Zwang und ein an Abwechslung armes Leben vorenthielten, ersetzte mir die treue Kameradschaft, die hier in Roßleben gehalten ward. Mit meinem Eintritt in die Klosterschule musste ich einen Strich unter mein bisheriges Leben setzen, die Landwirtschaft mit all ihrem Segen und Freuden vergessen. Was ich ihr sonst an Zeit geopfert hatte, kam nun meiner geistigen Ausbildung zugute. Ich arbeitete recht fleißig und las manches gute Buch. Durch das enge Zusammenleben von sechs bis acht Zöglingen auf einer Stube wurde ich gezwungen, auf meine Mitmenschen Rücksicht zu nehmen, lernte die verschiedenartigsten Ansichten und Weltanschauungen kennen und die meinigen vertreten. Die Schule bereitete mir die ersten drei Jahre meines Roßlebener Aufenthaltes wenig Schwierigkeiten und Sorgen. Ich kam ohne Sitzenbleiben bis Oberprima. Vielleicht gerade deswegen, weil ich bisher in der Schule keine bösen Erfahrungen gemacht hatte, glaubte ich, das Abitur leichter nehmen zu können, als es sich meinen Kenntnissen geziemte. So kam es, dass ich Weihnachten 1928 von der Reifeprüfung zurückgestellt wurde. Ich sehe dieses Jahr für mich jedoch nicht als ganz verloren an. Ich glaube, dass ich in diesem letzten Jahr mehr an innerer Reife zugenommen habe, als wenn ich schon im vorigen Frühjahr Student geworden wäre.
Meine Schulzeit liegt nun bald hinter mir. Zu einem Wissenschaftler bin ich durch sie nicht geworden. Meine praktischen Interessen sind immer noch die stärksten. Nach abgelegter Reifeprüfung gedenke ich zunächst Jura zu studieren und später einmal den Besitz meines Großonkels in Ostpreußen zu übernehmen.
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