15. Mai. Wenn man nach langer Abwesenheit seine Verwandten wiedersieht, hat man immer ein eigenartiges Gefühl; mir klopft das Herz vor Erregung, da ich zudem weiß, dass meine Mutter krank ist. Sobald ich in Stargard in meinem Gasthaus abgestiegen bin, erkundige ich mich sofort nach ihr und erfahre, dass sie auf dem Wege der Besserung ist. Ich schreibe an meine Schwester Podewils ein Briefchen und frage bei ihr an, ob die Mutter mich empfangen könne. Sie lässt mir sagen, ich solle sogleich zu ihr kommen, worauf ich mich dann eiligst hinbegebe. Ich kann die Tränen nicht zurückhalten, als ich hier nach siebenjähriger Trennung meine arme kranke Mutter wiedersehe, die die Furcht vor der Grausamkeit der Russen von Haus und Hof vertrieben hat. Unser erstes Wiedersehen ist sehr zärtlich und traurig zu gleicher Zeit. Ebenso begrüße ich meine Schwester und ihre Kinder Textverlust [...] Alle Flüchtlinge aus Preußen schicken zu mir, um ihrer Freude über meine Ankunft Ausdruck zu geben.
16. Mai. Ich freue mich aufrichtig, mit meiner Mutter
zusammen zu sein. Ich habe wohl manchmal unter ihren Launen zu leiden gehabt, aber
ich achte und liebe sie herzlich. Wenn man mit gefühlvollem Herzen daran denkt, was
alles die Eltern für ihre Kinder tun, so nimmt man auch ihre Grillen hin. Es ist
immer ein Glück, wenn man Eltern hat, über die man nicht zu erröten braucht und die
im Grunde nur sparsam sind, um die Ihrigem in guter Lage zurückzulassen. Auch über
unsere alten Dienstboten freue ich mich, selbst über ihre preußische Aussprache. Es
ist wahr, dass man seine alte Heimat nie vergisst. - Ich bleibe vierzehn Tage in
Stargard und erneuere alte
Bekanntschaften. Die Herren Staatsminister aus Preußen sind ein Bild des Jammers;
die haben alles, ihre Besitzungen und ihre Stellungen, verlasen müssen. Da ist der
Obermarschall Wallenrodt, der
Justizpräsident Groeben, der Kanzler v.
Tettau und der Oberburggraf, der Vgl. Giebel,
Tagebücher, S. 462. Rohd habe die Würde eines Oberburggrafen im Königreich
Preußen bekleidet, „weil der König geglaubt hatte, dass er von guter
Familie sei. Sein Vater war aber nur ein Mälzenbrauer gewesen, weshalb
der ganze hohe Adel über die Auszeichnung die größte Entrüstung
zeigte.“
[Schließen]Bierbrauersohn Rohd. Der rangälteste der Herren Staatsminister
ist der Obermarschall Wallenrodt. Er ist recht unbedeutend und will dabei mit seinen
63 Jahren noch den Schwerenöter spielen. Mit der Wahrheit nimmt er es nicht immer
sehr genau. Er hat eine alte Mätresse bei sich und ist ein sehr schlechter
Wirtschafter. Er bildet sich ein Französisch zu können, gebraucht dabei aber
Ausdrücke, die selbst einen Jeremias zum Lachen bringen könnten. Der zweite ist der
Justizpräsident Gröben. Dieser hat noch
das würdevolle Wesen der alten Zeit an sich, ist ein guter Redner und nach meiner
Ansicht der beste Kopf, den wir in Preußen haben. Dann kommt ein Herr von Tettau, der Kanzler, ein Ehrenmann, der sich
aber in seiner jetzigen Lage nicht zurecht zu finden weiß. Von Hause aus wenig
bemittelt, setzte ihn das Testament eines entfernten Onkels plötzlich in den Besitz
einer Rente von 100.000 Talern, worüber er sich immer noch zu wundern scheint. Aber
wie immer, so hat auch bei ihm das Glück noch eine unangenehme Zugabe gebracht.
Derselbe Onkel hat ihn überredet, eine Frau zu heiraten, wie sie schrecklicher kaum
zu denken ist. Sie ist eine
Albertine Gräfin von
Dönhoff
[Schließen]Gräfin Dönhoff, ein wahrer Ausbund von allem
Abscheulichem, das die Natur zusammenstellen konnte. Textverlust [...] Endlich
noch der Oberburggraf. Der ist ein Mann aus dem Nichts. Sein Vater war der
Bierbrauer Rohd. 1763 wurde Rohd
Staatsminister: „bürgerlich von Geburt, pedantisch im Amt und
unangenehm über alle Begriffe“, vgl. Giebel, Tagebücher, S. 504.
- 1772, nachdem er als Gesandter aus Wien zurückgekehrt war, schrieb
Lehndorff: „Dieser Mann, der Sohn eines Königsberger Bierbrauers, hat
sich durch seine Tüchtigkeit emporgearbeitet und alles erreicht, was ein
Mann von Stand nur erstreben kann.“ Nachträge, Bd. 2, S. 233 f.
[Schließen]Er ist in der Welt emporgekommen, indem
er zuerst Botschaftssekretär, dann Resident in Köln, später Gesandter in
Schweden und zuletzt Oberburggraf in Preußen wurde zum Ärger des ganzen
Königreichs, das gewohnt war, dieses Amt den ersten Familien des Landes
verliehen zu sehen. Er ist in hohem Grade lächerlich, und man hat ihn auch überall, wo
er war, so eingeschätzt. Trotz alledem hat der Mann Glück gehabt, hat es nicht nur
zu einem so ehrenvollen Amte, sondern auch zu einer sehr hübschen Frau gebracht. Sie
ist die Tochter des Obermarschalls Wallenrodt und hat über 40.000 Gulden Vermögen.
Der Titel Oberburggraf hat sie geblendet, und ich glaube, sie bereut es sehr. Textverlust [...] Im übrigen ist Stargard der Sammelplatz für falsche Nachrichten,
was nicht verwunderlich ist, da sämtliche Witwen Pommerns sich hierher geflüchtet
haben und der Klatsch hier unumschränkt herrscht.
30. Mai. Unterwegs komme ich durch die neuen Vgl. Hesse, Hans, Die Kolonisationstätigkeit des Prinzen Moritz von
Anhalt-Dessau in Pommern, 1747-1754, Dessau 1910.
[Schließen]Anpflanzungen,
die der König unter Leitung des Prinzen
Moritz zwischen Stargard und Stettin auf einem Boden, wo früher bloß Fichten
standen, gemacht hat. In Stettin sehe ich meinen Schwager Podewils wieder, mit dem ich seit zwei Jahren
nicht mehr zusammengekommen bin. Dieser Mann ist auch so ein Spielzeug des
Schicksals. Im Folgenden beschreibt Lehndorff die
Karrierestationen seines Schwagers, den seine Schwester wegen dessen guter Figur
geheiratet habe, die Mutter habe ihre Zustimmung wegen dessen glänzender
Stellung gegeben. Bald sei Podewils in Ungnade gefallen, sei von Königsberg nach Schlesien, später nach Potsdam versetzt worden, und habe auch noch
das Kommando von Stettin abgeben
müssen.
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