Knopf:UB Altmann (1751) Knopf

Johann Georg Altmann:
Versuch einer historischen und physischen Beschreibung der Helvetischen Eisbergen (Zürich 1751)
Exemplar: <4> VIa C 169

[Titelgraphik]
/Gliederbau:

|P_3_Anm.
Die Gelehrten, welche den Ursprung der deutschen Wörter nachgeforschet, haben noch nicht eigentlich entschieden, ob das Wort Gletscher von dem lateinischen Glacies oder von dem deutsche Glitschen herstamme; ich will diesen Streit nicht entscheiden, weil auch nicht viel daran gelegen. [...]

/[Begriff Eismeer, Flüsse]
|P_7
[ IK Ankündigung 6,1; ]
£{Hol-027,01ff} / £{HeM-165',19-21} / £{Hes-034,29-30} / £{HeO-46} [ ??? 13,9-10 ]
/Nachdem ich diese Eisberge an verschiedenen Orten von nahe betrachtet, und derselben Natur, Lage und Zufahle untersuchet, so bin ich auf die Gedanken gefallen, daß diese lange Reihen mit Eis und Schnee bedeckter Bergen, deren Thäler einem langen See oder Meer ganz gleich sind, nichts anders seyn können, als ein wahrhaftes und in allen Stücken vollkommenes Eismeer, welches von dem mächtigen und weisen Schöpfer auf diese hohen Berge gesetzet worden, damit dadurch die Luft der angränzenden Oerter gereiniget, die allzugrosse Hitz gemildert, und die Schweitz samt verschiedenen Ländern Europä mit Brünnen und Ströhmen bewässert würden, weil bekannt, daß der Rhodan, der Rhein und andere Flüsse nicht nur in der Schweitz ihren Ursprung haben, sondern ehe sie unsere Gränzen verlassen, von so vielen andern Flüssen Zusatz bekommen, daß sie bey Ausgang aus unsern Landen schon unter die grösten Flüsse zu zehlen sind; [...]


|P_19
Lit. A. bedeutet den sogenannten Gletscher, unter welchem Namen nicht das ganze Eismeer oder die nahe gelegenen Schnee- und Eisberge, sondern nur das von dem Eismeer zwischen beyden Bergen hervorgedruckte Eis zu verstehen, welches den Berg herunter in grosse Stücke zerfallt, die wohl 30 biß 40 Schuh hoch sind, [...], und sowohl von nahe als von weitem als zugespitzte Eisthürme anzusehen sind, wie man aus dem Kupfer sehen kann. Das merkwürdigste an diesen Thürmen ist dieses, daß die meisten sechseckigt sind. Diese erstrecken sich von der Fläche des Eismeers biß an den untern Theil des Bergs, und die Breite des Thals, so mit diesen Eisthürmen angefüllt ist, haltet wenigstens fünfhundert Schritt.

|P_20f.
Hier kommt die bey denSchweitzern bekannte Frage zu erörtern, ob der Gletscher der in beständigem Wachsthum von obenher / sich befindet, und endlich in dem Thal durch die Schmelzung sich verliehret, nicht seine gewisse und gesetzte Zeit des Wachthums und des Abnehmens habe?

|P_29
/£{Kae-179,11} /
An der Höhe dieses Bergs [sc. Eiger] beobachtet man ein grosses Loch, so von der Natur seinen Ursprung hat, und mit Lit. G. bezeichnet, es gehet durch den Berg, so daß man auch durch dasselbe von ferne den Himmel sehen kan, dem Vermuthen nach muß es wohl mehr dann zwanzig Schuh im Durchschnitt haben, und wird von den Leuten des Orts des[!] Martis Loch genennet.


|P_41f.
Wir führen also unsere Betrachtungen fort, und da kommt erstlich die Frage vor, wie die Gletscher wachsen, und ob sie im Winter oder Sommer zunehmen? Wir bitten aber den Leser niemahls zu vergessen, daß wir unter dem Gletscher nicht die Eis- und Schneeberge, vielweniger das flache Eismeer, sondern nur das durch die von einander stehende Berge / hervorgetriebene Eis, so in der Tafel mit dem Buchstaben A. bezeichnet, verstehen, und solche Auswürffe, unter welchen hier das Wasser aus dem Eismeer hervorfliesset, siehet man an allen denen Orten, da sich die Berge in die Thäler neigen, oder von denselben abgesondert sind, und hinter welchen das Eismeer stehet.
[...], weil alle Gletscher ohne Unterscheid nichts anders sind, als ein Auswurf des Eismeers, so durch ein Thal sich von seinem Ueberfluß von Wasser und Eis durch eine solche Oefnung entladet. Diese Frag nun, wie und wann die Gletscher ihr Wachsthum haben, soll um so viel desto mehr untersucht werden, weil man vormahls durchgehend geglaubt, sie wachsen aus der Tieffe in eine solche Höhe aufwerts, und so sie solche erreichet, so nehmen sie wieder ab; [...].
[Die auf Scheuchzer zurückgehende Meinung wird verworfen; stattdessen:]

|P_33f.
Wir haben schon oben angemerket, was der Gletscher seye, und wie er sein Wachsthum von den zwischen den Bergen hervorgetriebenen grossen Stücken Eis empfange; [...]; Man siehet wie das Eismeer grosse Stücke bey der Kluft des Bergs auswirft; man beobachtet, wie er / nach und nach von der Höhe des Bergs gegen das untere Thal getrieben wird; man höret durch das Rauschen des des unter demselben herunterfallenden Wassers, daß der ganze Gletscher, wie ein Gewölb, gleichsam auf Säulen ruhe, [...].

|P_44
[...], daß alles Wachsthum der Gletschern einig und allein von dem Eismeer herkomme, welches seinen Ueberfluß durch die zwischen den Bergen sich befindende grosse Klüfte und Thäler ausstosset: [...].

|P_45
Ich verstehe aber durch das Zunehmen, wann die grossen Eistafeln von der Fläche des Eismeers zwischen den Bergen hinaus getrieben werden, dadurch dann der an dem Berg liegende und gleichsam hangende Gletscher von oben her gedrucket wird, und auf diese Weise geschiehet es, daß durch dieses grosse von oben herkommende Gewicht der ganze Gletscher weiter gegen das Thal hinunter geschoben wird.

|P_46
[...], daß so weit man dieses lange Eismeer erforschet, so ist die Fläche desselben ganz glatt und eben wie ein Meer oder See, und so bald einer von den Gletschern weiter in die Höhe kommt, so entdecket man ein völliges Eismeer, eben so wie die Nordischen Eismeere von denen, so dahin Reisen gemacht, beschrieben werden, [...]. [Im Anschluß wird seine Länge nach Stunden beschrieben: acht und nochmals mehr als vierzig; keine Angabe in Meilen.]

|P_48
£{HeM-176',11-16}
/Man spühret in den Bergen öftere, wiewohl gemeiniglich nur schwache Erdbeben, die auch keine böse Folgen von heftigen Erschütterungen mit sich führen, und auch nicht allgemein sind, sondern nur in diesem oder jenem Thal verspühret und beobachtet werden; Diese Berge sind aller Orten mit grossen Hölen und Klüften angefüllt, und etwelche derselben zeigen sich mit Öffnungen gegen die freye Luft, daraus dann leichtlich zu schliessen, daß durch Losbrechung der verschlossenen Winden öftere kleinere oder grössere Erschütterungen [49] der Erden entstehen können. Es kan auch seyn, daß diese starke Bewegung der Fläche des grossen Eisklumpens von einem heftigen zwischen dem Wasser und dem Eis sich befindenden Wind, der nicht alsobald seinen Ausgang gefunden, entstanden ist.


|P_67
/[...] da die Erfahrung bezeuget, daß dieses uralte Eis weit härter und zu der Schmelzung unbequemer wäre als das gemeine [...]

|P_70-71
£{HeM-176,14-19}
[...] Ein ander Stück legte ich an die Sonne, und zwar an einem / Ort, daß die Strahlen nicht nur wohl darauf fallen könnten, sondern da sie gegen ein darhinter gestelltes Stück Holz zurückschlagen mußten; ich fande gleichfalls daß selbiges, obschon es über zwey Pfund nicht gewogen, biß auf den Abend nicht verschmolzen.

|P_76
£{HeO-17,02-05}
/Man nennet Temperatur der Luft denjenigen Grad, welchen der Thermometer in den tiefsten Kellern und Hölen der Erden, welcher zwischen kalt und warm ist, aller Orten gleich und zu allen Zeiten beobachtet, als zum Exempel in den Kellern, so unter dem Königlichen Observatorio in Paris sich befinden, und die über dreyhundert Treppen tief sind, man hat die gleiche Temperatur in vielen andern Tieffen der Erde beobachtet, als zum Exempel in einer tieffen Höle zu Ardnighem bey Calais, welche 447. Schuh tief ist.

|P_77-78
/Wir machen hier diese Anmerkung, welche nach dem Begriff eines jeden Kinds kan wahrgenommen werden, daß ein Eis, das noch nicht den höchsten Staffel der Kälte erlanget, annoch durchsichtig ist, das aber, aus welchem aller Luft und warme Theile ausgetrieben, ist nicht mehr durchsichtig, sondern nach der Beschaffenheit des Wassers, daraus dasselbe zugefroren, etwas blaulicht oder graulicht, und von dieser letzten Farb ist das Eis, so man in unsern Helvetischen Eisbergen findet, die aber von weitem blaulicht aussehen.

|P_80
£{HeM-176',3-4}
/Ich habe schon in dem vorgehenden Capitel gemeldet, daß oben auf der Fläche des Eises grosse Spälte, die oft von einem Port zu dem andern gehen, zu sehen, diese sind unterschiedlich, öfters sind sie nur eines Schuhes breit, öfters drey biß vier und auch mehr; in der Tieffe aber erstrecken sie sich von der obern Fläche biß auf das Wasser [...]

|P_83f.
/£{Hes-035,05} [etwa] /
Man hat öfters Exempel, daß Menschen in solche Spalten gefallen, von deren Ausgang man nichts vernommen, biß daß sie durch die Zeit langer Jahren mit den Gletscher fortgeflossen, und endlich an dem Ort, da er sein Ende erreichet und abgeschmolzen ans Licht getrieben worden. Ein solches Exempel hat man vor etwelchen Jahren an einem Hutmacher von Thun, welcher mit seiner Burde von Hüten nach dem Wallisland, selbige dorten zu verkauffen, verreiset, er nahme seinen Weg von Hauß über den Luterbrunnen, er mußte aber zu seinem Unglück ein Stück Wegs über den Gletscher machen, / unvorsichtiger Weis stürzet er samt seiner Burde in einen solchen Schrund, [...] nach dem Verlauf etwelcher Jahren erscheint er bey dem abgeschmolzenen Gletscher in Luterbrunnen, aus welchem er nach etwelchen Jahren hervor getrucket worden. Seit seinem Tode ware er in dem Eis begraben gewesen, deßwegen sein Leib der Verwesung auch nicht unterworffen ware; [...].

|P_84f.
/£{Hes-033,26}
Durch die / Lawinen verstehen die Schweitzer eine grosse Menge Schnee, welche von den hohen Bergen, sonderlich zu Winters- und Frühlings-Zeit, in die angelegene Thäler fallen, und oft nicht nur die durchreisende, sondern ganze Dorfschaften oder Häuser bedecken.
[zu den Lawinen: Altmann zitiert Scheuchzer; siehe Scheuchzer 1746, Bd. 1, S. 294-302]

|P_86-88
£{HeM-175',19-24} / £{Hes-033}
/Es gibt verschiedener Gattung Lauwinnen; die einten nennet man Wind-Lauwinnen, weilen sie von dem Wind erreget werden; sie entstehen bey einem frisch eingefallenen Schnee, der in den hohen / Bergen auch von leichtem Wind beweget, und also zum Falle veranlasset wird. [...] Man nennet sie auch Staub-Lauwinnen, weilen sie alles, so weit sie den Schnee hintragen, mit einem Schnee-Staub überdecken; die Wind-Lauwinnen sind so weit gefährlicher als die Schlag- und Grund-Lauwinnen, weil sie geschwind daher fahren, und bald rechts bald links, je nachdem sie der Wind treibet, gleichsam in das Thal fliegen, und eben darum können die Reisende solchen auch nicht wohl entfliehen, doch sind sie darinn nicht so gefährlich, wie die Grund-Lauwinnen, weil man sich leichter daraus wicklen kan, und die Menschen in denselben eine Zeitlang, ohne Gefahr zu ersticken, das Leben behalten können.
£{HeM-176,02-04}
Die zweyte Gattung nennet man Schlag-Lauwinnen, weilen sie nicht so geschwind, wie die vorbemeldte, daher kommen, / aber durch ihr grosses Gewicht alles darnider werffen, weil sie durch das Herabfallen an den Bergen, Bäume, Steine, Felsen, und was sie antreffen, mit sich nehmen, und darum werden auch sie Grund-Lauwinnen geheissen [...]

|P_88-89
£{Hol-027,16-17} / £{HeM-175',17-18} / £{HeM-176,03-04}
/Es kan eine Lauwin erwecket werden von allem dem, was mittelbar oder unmittelbar durch die Luft den auf dem Berg ligenden Schnee zum abschlipfen veranlassen kan, als zum Exempel, der frisch gefallene Schnee selbsten, der beweglicher ist als der verlegene; die von den Bäumen oder Felsen abfallende Schnee-Locken; der Thon der Schellen der Glocken, oder der Thon aus einer Pistolen, oder anderm / Feuer-Rohr, die Stimm der Ruffenden, oder auch nur die geringe Bewegung des Lufts, so durch die Reden der Reisenden erwecket wird; der Regen, die Frühlings-Wärme, die Bewegung des Lufts[!], so durch den Flug der Vögel gemacht wird. Alle diese Ursachen, und eine jede derselben können durch die geringste Bewegung etwas weniges von hangendem Schnee von seinem Ort bewegen, welcher dann in währendem Abfallen so wohl an Stärke als auch an Grösse solcher gestalt zunimmt, daß endlich eine Schneeballen daraus wird, die, wie ein Hauß oder gar wie ein Hügel groß ist, und alles was ihro aufstoßt, Bäume, Häuser und andere Sachen mit sich führet, und endlich in dem darunter ligenden Thal ligen laßt, auch etliche Jucharten Acker damit bedecket.


|P_96: Wir machen also den Anfang in dem Caton Glarus, da man verschiedene hinter einander stehende Schnee-Berge sieht, zwischen welchen das Eismeer seinen Anfang nimmt, und dieses sind der sogenannte Wiggis, der Glarnisch, der Schilt und der Tödiberg, [...].

|P_99
/£{Hes-034,26} /
Will sich nun jemand die Mühe geben, und in der grossen Landkarte von der Schweitz, in deren die Alpgebürge mit Fleiß und Sorgfalt aufgezeichnet sind, diesen Eisbergen nachgehen, die oft drey und auch vierfach hintereinander stehen, und das darauf ruhende Eismeer einschliessen, so wird man leichtlich finden, daß sie ein Stuck Land von 40 Stunden durch ihre bald auf diese bald auf jene Seite weit ausschweiffende Lage ausmachen.
Wir haben hier Gelegenheit unseren Satz, welchen in der ersten Abhandlung bald von Anfang geleget worden, zu befestigen; Er lautet also: Die Helvetische Eisberge sind nichts anders als ein wahrhaftes und in allen Stucken vollkommenes Eismeer, welches von dem mächtigen weisen Schöpffer auf diese hohe Berge gesetzet worden, damit dadurch die Luft der angränzenden Oerter gereiniget, und die Schweitz samt noch etwelchen anderen Ländern Europä mit Brünnen und Strömen bewässeret würde.


|P_119
[Bericht eines Herrn W. über die savoyischen Eisberge]
£{HeM-176',03} / £{Kae-172,06} /
/Mich bedunkt, die Beschreibung, welche die Reisende von dem Eismeer in Grönland geben, habe eine grosse Gleichheit mit diesen Eisbergen. Man stelle sich vor ein Meer, so durch starke Wellen ungestümm gemacht ist, und plötzlich zugefrieren könnte, so wird man sich einen nicht unebnen Begrif von diesen Eisbergen machen.
[Altmann grenzt das Eismeer anders ab als Hol-027,01 ]


Datum: 12.01.2008 / ... / Okt. 2015 / Dezember 2016 / 07.11.2018