Immanuel Kant, Programmschrift zur Vorlesung über physische Geographie, erschienen im April 1757 in Königsberg. Mit ergänzenden Noten (μ) und Erläuterungen (α) zum Text und γ_verlinkten Hinweisen zur Literatur. Text in der Fassung von Bd. 2, S. 1-12, der Akademie-Ausgabe (Berlin 1905) | ![]() |
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[S_001]
[S_003]
Der vernünftige Geschmack unserer aufgeklärten Zeiten ist
vermuthlich so allgemein geworden, daß man voraus setzen kann, es werden
nur wenige gefunden werden, denen es gleichgültig wäre diejenigen
Merkwürdigkeiten der Natur zu kennen, die die Erdkugel auch in andern
Gegenden in sich faßt, welche sich außer ihrem Gesichtskreise
befinden. Es ist auch für keinen gringern Vorzug anzusehen, daß die
leichtgläubige Bewunderung, die Pflegerin unendlicher Hirngespinste, der
behutsamen Prüfung Platz gemacht hat, wodurch wir in den Stand gesetzt
werden, aus beglaubigten Zeugnissen sichere Kenntnisse einzuziehen, ohne in
Gefahr zu sein, statt der Erlangung einer richtigen Wissenschaft der
natürlichen Merkwürdigkeiten uns in einer Welt von Fabeln zu verirren.
Die Betrachtung der Erde ist vornehmlich dreifach. Die mathematische sieht die
Erde als einen beinahe kugelförmigen und von Geschöpfen leeren
Weltkörper an, dessen Größe, Figur und Cirkel, die auf ihm
müssen gedacht werden, sie erwägt. Die politische lehrt die
Völkerschaften, die Gemeinschaft, die die Menschen unter einander durch die
Regierungsform, Handlung und gegenseitiges Interesse haben, die Religion,
Gebräuche etc. kennen; die physische Geographie erwägt bloß die
Naturbeschaffenheit der Erdkugel und, was auf ihr befindlich ist: die Meere, das
feste Land, die Gebirge, Flüsse, den Luftkreis, den Menschen, die Thiere,
Pflanzen und Mineralien. Alles dieses aber nicht mit derjenigen
Vollständigkeit und philosophischen Genauheit in den Theilen, welche ein
Geschäfte der Physik und Naturgeschichte ist, sondern mit der
vernünftigen Neubegierde eines Reisenden, der allenthalben das
Merkwürdige, das Sonderbare und Schöne aufsucht, seine gesammelte Beobachtungen vergleicht
und seinen Plan überdenkt.
[S_004]
Ich glaube bemerkt zu haben, daß die erste zwei Gattungen der
Erdbetrachtung Hülfsmittel genug für sich finden, wodurch ein
Lehrbegieriger auf eine so bequeme als hinreichende Art fortzukommen im Stande
ist; allein eine vollständige und richtige Einsicht in der dritten
führt mehr Bemühung und Hindernisse mit sich. Die Nachrichten, die
hiezu dienen, sind in vielen und großen Werken zerstreuet, und es fehlt
noch an einem Lehrbuche, vermittelst dessen diese Wissenschaft zum akademischen
Gebrauche geschickt gemacht werden könnte. Daher faßte ich gleich zu
Anfange meiner akademischen Lehrstunden den Entschluß, diese Wissenschaft
in besondern Vorlesungen nach Anleitung eines summarischen Entwurfes
vorzutragen. Dieses habe ich in einem halbjährigen Collegio zur Genugthuung
meiner Herren Zuhörer geleistet. Seitdem habe ich meinen Plan ansehnlich
erweitert. Ich habe aus allen Quellen geschöpft, allen Vorrath aufgesucht
und außer demjenigen, was die Werke des γ_Varenius, γ_Buffon und γ_Lulofs von den allgemeinen Gründen der physischen
Geographie enthalten, die gründlichsten γ_Beschreibungen besonderer
Länder von geschickten Reisenden, die γ_allgemeine Historie aller
Reisen, die γ_Göttingische Sammlung neuer Reisen, das γ_Hamburgische und γ_Leipziger Magazin, die γ_Schriften der Akademie der Wissenschaften zu
Paris und γ_Stockholm γ_u.a.m. durchgegangen und aus
allem, was zu diesem Zweck gehörte, ein System gemacht. Ich liefere hier
hievon einen kurzen Entwurf. Man wird urtheilen können, ob es, ohne dem
Namen eines Gelehrten Abbruch zu thun, erlaubt sei, in diesen Dingen unwissend
zu sein. Kurzer Abriß der physischen Geographie.
Vorbereitung.
[Phi p. 1]
Die Erde wird kürzlich nach ihrer Figur, Größe, Bewegung und
den Cirkeln, die wegen dieser auf ihr müssen gedacht werden, betrachtet,
doch ohne sich in diejenige Weitläuftigkeit einzulassen, die für die
mathematische Geographie gehört. Alles dieses wird auf dem Globo
und zugleich die Eintheilung in Meere, festes Land und Inseln, die Proportion
ihrer Größe, die Klimata, die Begriffe der Länge, der Breite,
der Tageslänge und der Jahreszeiten kürzlich gewiesen.
[S_005]
Abhandlung.
1. Allgemeiner Theil der physischen Geographie.
Erstes Hauptstück.
Vom Meere.
[Phi p. 8/10]
Dessen Eintheilung in den Ocean, die mittelländischen Meere und die
Seen. Von Archipelagis. Von den Busen, Meerengen, Häfen,
Ankerplätzen. Vom Boden des
Meeres und dessen Beschaffenheit. Von der Tiefe desselben, in verschiedenen
Meeren gegen einander verglichen. Vom Senkblei und der Täucherglocke.
Methoden, versunkene Sachen in die Höhe zu bringen. Vom Druck des
Meerwassers. Von seiner
Salzigkeit. Verschiedene Meinungen der Ursache derselben. Zubereitung des
Meersalzes. Methoden, Seewasser süß zu machen. Von der Durchsichtigkeit, dem
Leuchten, der Farbe desselben und den Ursachen ihrer Verschiedenheit. Von
der Kälte und Wärme desselben in unterschiedlichen Tiefen. Ob das Weltmeer in allen seinen
Theilen gleich hoch stehe. Warum das Meer von den Flüssen nicht voller
werde. Ob Meere und Seen eine unterirdische Gemeinschaft haben. Bewegung des Meeres durch die
Stürme. Wie weit dieselbe sich in der Tiefe erstrecke. Die Meere und Seen,
die am unruhigsten sind. Von der Ebbe und Fluth. Gesetze derselben und Ursache.
Abweichung von diesen Gesetzen. Allgemeine Bewegung des Meeres. Wie diese durch
die Küsten und Felsen anders bestimmt werde. Von den Meerströmen. Von
Meerstrudeln. Ursachen derselben. Von dem Zuge der Wasser in den Meerengen. Vom Eismeer. Schwimmende Eisfelder.
Nordisches Treibholz. Einige andere Merkwürdigkeiten. Von Klippen und
Sandbänken. Von
inländischen Seen und Morästen. Merkwürdige Seen wie der
Cirknitzer und andere.
Zweites Hauptstück.
Geschichte des festen Landes und der Inseln.
[Phi p. 24]
Von den unbekannten Ländern, die es entweder gänzlich oder zum
Theil sind. Die Berge, Gebirge, das feste Land und die Inseln in einem
systematischen Begriffe betrachtet. Von Vorgebirgen, Halbinseln, Landengen.
Allerlei Beobachtungen auf ihren
Spitzen in verschiedenen Welttheilen.
[S_006]
Vom Gletscher oder dem schweizerischen Eismeere. Methoden, ihre Höhe zu
messen. Von den natürlichen und künstlichen Höhlen und
Klüften. α0_Von der Structur des Erdklumpens. Den stratis ihrer
Materie._μ1 Ordnung und Lage. Von den Erzgängen. Von der
Wärme, Kälte und der Luft in verschiedenen Tiefen. Historie der Erdbeben und feuerspeienden Berge auf der
ganzen Erdkugel. [Phi p. 32] Betrachtung der Inseln,
sowohl derer, die gewiß als solche erkannt werden, als von denen es
zweifelhaft ist.
Drittes Hauptstück.
Geschichte der Quellen und Brunnen.
[Phi p. 35]
Verschiedene Hypothesen von ihrem Ursprung. Beobachtungen, daraus derselbe
kann erkannt werden. Quellen, welche periodisch fließen. Versteinernde,
mineralische, heiße und überaus kalte Quellen. Vom Cementwasser.
Entzündbare Brunnen. Vom Petroleo und Naphta. Von
Veränderung, dem Entstehen und Vergehen der Quellen. α1_Vom Graben der Brunnen.
Viertes Hauptstück.
Geschichte der Flüsse und Bäche.
[Phi p. 39]
Ursprung der Flüsse. Vergleichung der merkwürdigsten auf der Erde
in Ansehung der Länge ihres Laufs, ihrer Schnelligkeit, der Menge ihres
Wassers; von ihrer Richtung, der Größe ihres Abhanges, Aufschwellung,
Überschwemmung, Dämmen und Buhnen, den berühmtesten Canälen.
Von Wasserfällen. Von Flüssen, die im Lande versiegen. Von solchen,
die sich unter die Erde verbergen und wieder hervorkommen. Von Flüssen,
Schwere des Wassers der Flüsse.
Fünftes Hauptstück.
Geschichte des Luftkreises.
[Phi p. 49]
Höhe der Atmosphäre. Die drei Regionen derselben. Vergleichung der
Eigenschaften der Luft in verschiedenen Weltgegenden, in Ansehung der Schwere,
Trockenheit, Feuchtigkeit, Gesundheit. Betrachtung ihrer Eigenschaft in
großen Höhen und Tiefen. Wirkung der Luft auf das Licht der Sterne in
verschiedenen Ländern.
[S_007]
Geschichte der Winde.
[Phi p. 54]
Die vornehmsten und geringern Ursachen derselben. Ihre Eintheilung nach den
Weltgegenden. Winde von verschiedenen Eigenschaften, der Trockenheit, Feuchte,
Wärme, Kälte und Gesundheit. Vom Passatwinde, dessen allgemeinen und
besondern Gesetzen nach Beschaffenheit der Erdstriche. Von den Moussons. Von den
abwechselnden See- und Landwinden. Von denen, die in einer Gegend die mehreste
Zeit herrschen. Von der Schnelligkeit der Winde. Von den Windstillen, den
Stürmen, Orkanen, Typhons, der Wasserhose und Wolkenbrüchen, nach den
Weltgegenden, worin sie herrschen, ihren Gesetzen und Ursachen erwogen. Die
Winde in verschiedenen Erhöhungen von der Erde mit einander verglichen.
Kurze Betrachtung einiger besondern Luftbegebenheiten.
Sechstes Hauptstück.
[Phi p. 65]
Von dem Zusammenhange der Witterung mit dem Erdstriche oder den Jahreszeiten in
verschiedenen Ländern.
Worin der Winter in der heißen Zone
bestehe. Warum nicht in allen Erdstrichen, die eben dasselbe Klima haben, der
Winter oder Sommer zu gleicher Zeit und auf gleiche Art geschieht. Woher der
heiße Erdstrich bewohnbar sei. Aufzählung der Länder, die unter
einem Himmelsstriche liegen und doch in Ansehung der Wärme und Kälte
sehr unterschieden sind. Von der Kälte in dem südlichen Ocean und
Ursache derselben. Von den Gegenden der größten Hitze und Kälte
auf dem Erdboden, den Graden und Wirkungen derselben. Von Ländern, darin es
niemals, und andern, darin es fast beständig regnet.
Siebentes Hauptstück.
Geschichte der großen Veränderungen, die die Erde ehedem
erlitten hat.
[Phi p. 67]
a) Von den Veränderungen, die auf derselben noch fortdauren.
[Phi p. 67]
Wirkung der Flüsse in Veränderung der Gestalt der Erde aus den
Exempeln des Nils, Amazonenstroms, Missisippi und anderer. Wirkungen des Regens
und der Gießbäche. Ob das feste Land immer erniedrigt und das Meer
nach und nach erhöht werde. Von der Wirkung der Winde auf [S_008]
die Veränderung der Erdgestalt. Von der Veränderung derselben durch
Erdbeben. Durch den Menschen. Bestätigung durch Beispiele. Von der
fortdaurenden Veränderung des festen Landes in Meer und des Meeres in
festes Land. Beobachtungen hievon und Meinungen von den Folgen derselben.
Hypothese des Linnäus. Ob die Bewegungen der
Erde, die tägliche sowohl als die jährliche, einer Veränderung
unterworfen seien.
b) Denkmale der Veränderung der Erde in den ältesten
Zeiten. [Phi p. 70]
Alles feste Land ist ehedem der Boden des Meeres gewesen. Beweisthümer
aus den in der Erde und auf hohen Bergen befindlichen Muschelschichten,
versteinerten oder in Stein abgeformten Seethieren und Seepflanzen.
Beweisthümer des Buffons aus der Gestalt der
Gebirge. Daß die Veränderung des festen Landes in Meer und des Meeres
in festes Land in langen Perioden oftermals auf einander gefolgt sei; aus den
stratis, welche Überbleibsel des Seegrundes enthalten und mit
denen, so Producte des festen Landes in sich schließen, abwechseln,
bewiesen. Von unterirdischen Wäldern. Lage ihrer verschütteten
Bäume. Woher in diesen Erdschichten mehrentheils von indianischen Thieren
und Gewächsen Überbleibsel anzutreffen seien. Beurtheilung der
sogenannten Spiele der Natur. Von den Steinen, welche eigentlich versteinerte
Teile aus dem Thierreich sind.
c) Theorie der Erde, oder Gründe der alten Geschichte
derselben. [Phi p. 73]
Ob eine einzige allgemeine Überschwemmung wie die Noachische alle diese Veränderungen habe
hervorbringen können. Allgemeine Betrachtung der Gestalt des festen Landes,
der Richtung und des Abhanges der Gebirge, der Landesspitzen und Inseln, aus
deren Analogie auf die Ursache ihres Ursprungs und ihrer Veränderungen
geschlossen wird. Folgerung aus der Beschaffenheit der Erdschichten und dem, was
sie in sich enthalten. α2_Ob die Achse der Erde sich ehedem
verändert habe. Beurtheilung der Hypothesen des Woodward, Burnet, Whiston, Leibniz, γ_Buffon u.a.m. Resultat aus den verglichenen Beurtheilungen.
Achtes Hauptstück.
Von der Schifffahrt. [Phi p. 79]
Von den Rhombis, der Loxodromie, der Schiffsrose, der Schätzung des
Weges und Correction derselben. Von Erfindung der Länge und [S_009]
Breite. Prüfung des Grundes. Andere Merkwürdigkeiten bei der Seefahrt.
Von den merkwürdigsten Seereisen alter und neuer Zeiten. Von der Vermuthung
neuer Länder und den Bemühungen sie zu entdecken.
2. Der physischen Geographie besonderer Theil.
1) Das Thierreich, darin [erstens] der Mensch nach dem Unterschiede seiner [Phi p. 97] natürlichen Bildung und Farbe in verschiedenen Gegenden der Erde auf eine vergleichende Art betrachtet wird; zweitens die merkwürdigsten Thiere, sowohl die auf dem Lande als in der Luft als auch im Wasser sich aufhalten, die Amphibien und merkwürdigste Insecten, nach der Geschichte ihrer Natur erwogen werden.
2) Das Pflanzenreich, davon alle diejenige Gewächse der Erde, [Phi p. 165] die die Aufmerksamkeit entweder durch ihre Seltsamkeit oder besondern Nutzen vornehmlich auf sich ziehen, erklärt werden.
3) Das Mineralreich, dessen angenehmste und in den menschlichen [Phi p. 181] Nutzen oder Vergnügen am meisten einfließende Merkwürdigkeiten auf eine historische und philosophische Art durchgegangen werden.
Ich trage dieses zuerst in der natürlichen Ordnung der Classen vor und gehe zuletzt in geographischer Lehrart alle Länder der Erde durch, um [Phi p. 198] die Neigungen der Menschen, die aus dem Himmelsstriche, darin sie leben, herfließen, die Mannigfaltigkeit ihrer Vorurtheile und Denkungsart, in so fern dieses alles dazu dienen kann, den Menschen näher mit sich selbst bekannt zu machen, einen kurzen Begriff ihrer Künste, Handlung und Wissenschaft, eine Erzählung der oben schon erklärten Landesproducte an ihren gehörigen Orten, die Luftbeschaffenheit u. s. w., mit einem Worte, alles, was zur physischen Erdbetrachtung gehört, darzulegen.
Alles wird in schriftlichen summarischen Aufsätzen, welche zur leichteren Wiederholung dieser ohnedem durch ihre Annehmlichkeit die Aufmerksamkeit genug unterhaltenden Wissenschaft dienen sollen, zusammen gefaßt werden.
* * *
Die Wissenschaft, wovon gegenwärtiger Abriß einen Entwurf darlegt, wird in diesem Sommerhalbenjahre vorgetragen werden. Ich werde auch die Naturwissenschaft nach Anleitung des Handbuches des Herrn [S_010] D. Eberhard in besondern Vorlesungen erklären. Die Logik wird nach der Meierischen kurzen Einleitung und die Metaphysik nach der Anweisung des Baumeisters gelesen. Ich habe im verwichenen halben Jahre auf Verlangen einiger Herren diesen Wechsel mit dem zwar gründlichern, aber schwereren Baumgarten zu ihrer Befriedigung angestellt. Man wird indessen die Freiheit der Wahl haben, von welchem von beiden man sich größere Vortheile versprechen wird. In der Mathematik werden die alten Vorlesungen fortgesetzt und neue angefangen. Meine Bemühungen werden glücklich genug sein, wenn sie den Beifall derjenigen, die zwar nicht den größten, doch schätzbarsten Theil ausmachen, nämlich der Vernünftigen, erwerben können.
Anhang einer kurzen Betrachtung über die Frage: Ob die Westwinde in unseren Gegenden darum feucht seien, weil sie über ein großes Meer streichen.
Wenn man die Ursache der Naturbegebenheiten, die von der Himmelsgegend und Beschaffenheit der Erdstriche abhängen, einsehen will, so läuft man oft Gefahr sein System durch eine nicht vorhergesehene Instanz über den Haufen fallen zu sehen, wenn man nicht vorher verglichene Erscheinungen und Beobachtungen anderer Länder zu rathe gezogen hat. Es fällt jedermann leicht ein, die nasse Witterung, die uns die Westwinde zuziehen, der Lage unseres Landes zuzuschreiben, welchem ein großes Meer gegen Abend liegt. Allein diese so leicht, so natürlich scheinende Erklärung wird durch Vergleichung mit der Witterung anderer Länder sehr zweifelhaft gemacht, wo nicht gänzlich aufgehoben. Musschenbroek, der sonst eben derselben Meinung zugethan ist, wird dennoch darin ein wenig ungewiß, wenn er erwägt, daß der Nordwind in den Niederlanden ein trockener Wind sei, ob er gleich über das große deutsche Meer und selbst über den nordischen Ocean streicht. Er schreibt seine Trockenheit der Kälte desselben zu. Allein wenn im Sommer die Sonne diesen Ocean hinlänglich erwärmt, so fällt dieser Vorwand Weg, und der Wind bleibt dem ungeachtet trocken. Man findet aber in der physischen Geographie noch stärkere Gründe wider die gemeine Meinung. [S_011]
In dem ganzen indischen Ocean vom Archipelagus der Philippinen an bis in das Arabische Meer herrschen das Jahr hindurch zwei Wechselwinde: der Nordostwind vom October bis in den Mai und der Südwestwind vom Mai bis in den October. Der erste führt eine heitere Luft mit sich, und der letzte ist die Ursache der Regenmonate in diesen Ländern, obgleich einer sowohl als der andere über große Meere streicht. Bei den philippinischen Inseln, in Mindanao und den übrigen, wird dieses noch sichtbarer. Der ostliche Mousson kommt über das fast gränzenlose stille Meer her und bringt dennoch heiter Wetter zuwege; dagegen der westliche Wechselwind, der über Gegenden streicht, die mit Inseln und Landesspitzen besäet sind, die Regenzeit mit sich führt. Kolbe führt an, daß auf dem Vorgebirge der guten Hoffnung, sowohl auf der westlichen als ostlichen dazu gehörigen Gegend, die Ostwinde das trockene Wetter, die Westwinde aber die nasse Jahreszeit zuwege bringen, obgleich nicht abzusehen ist, warum der Westwind lediglich feucht sein sollte, da gegen Osten ein ebenso weites Meer als gegen Westen liegt. In dem mexikanischen Meerbusen an der Landenge von Panama, in Carthagena und anderwärts wechseln so wie im indischen Meere die N.O.- und W.S.W.-Winde die zwei Jahreshälften hindurch. Die ersten, welche man Brisen nennt, sind trocken und machen eine heitere Luft. Die letzte, welche man Vendavalen nennt, sind feucht, und mit ihnen kommt die Regenzeit. Nun kommen aber die N.O.-Winde über den großen Atlantischen Ocean und sind nichtsdestoweniger trocken. Die W.S.W.-Winde aber können von keinem großen Striche des stillen Meeres herkommen, weil in einer mittelmäßigen Entfernung vom festen Lande beständige Ostwinde diese See beherrschen. Auf der Fahrt, die die manillische Gallion von Acapulco nach Manilla anstellt, und da sie, um den Ostwind zu genießen, sich nicht weit vom Äquator entfernt, findet sie fast beständig heiteres Wetter. Allein bei der Reise von Manilla nach Acapulco, da sie auf eine gewisse Höhe herrschenden Westwinde nach Amerika und ist so gewiß daselbst öftere Regen anzutreffen, daß sie sich auf diese lange Fahrt nicht einmal mit Wasser versorgt, und alle verloren sein würden, wenn sie ausbleiben sollten. Nun sage man mir, wenn man die gemeine Meinung behauptet, eine begreifliche Ursache, warum der Ostwind, der auf dem stillen Meere und zwar in der wärmsten Gegend streicht, allein trocken, der Westwind aber, der über denselben Ocean weht, feucht und regenhaft sein müsse. [S_012]
Mich dünkt, dieses sei mehr als zureichend, den Gedanken zum wenigsten zweifelhaft zu machen: daß bei uns die Westwinde ihre Feuchtigkeit von dem gegen Westen gelegenen Meere entlehnen. Es scheint vielmehr, daß die Westwinde in allen Gegenden der Erde eine Ursache der feuchten Witterung abgeben, ob ich gleich nicht in Abrede sein will: daß die Beschaffenheit der Gegenden, darüber sie streichen, öfters diese Eigenschaft verringern könne; so wie in dem südlichen Theile von Persien geschieht, da die Südwestwinde, welche über die verbrannte Gegenden von Arabien ziehen, dürre und heiße Luft mit sich führen. Die Enge des Raumes hindert mich die Ursache von dieser Eigenschaft der Westwinde zu erklären. Sollten nicht dieselbe, da sie dem allgemeinen und natürlichen Zuge der Luft von Morgen gegen Abend, der in dem α3_vierten Cap. der phys. Geographie erklärt wird, entgegen streichen, eben um deswillen die Dünste zusammen treiben und verdicken, damit die Luft jederzeit erfüllt ist? Zum wenigsten, wenn man die Luft als ein Auflösungsmittel (menstruum) der Feuchtigkeit auf der Erde ansieht, so ist es nicht genug sie mit dieser bis zur Sättigung angefüllt anzunehmen, wenn man erklären will, warum sie dieselbe fallen lasse, d. i. warum es regne, sondern man muß eine Ursache anzeigen, die sie niederschlägt (präcipitirt), das ist, die die Luft nöthigt, sie aus ihren Zwischenräumen fahren zu lassen, damit die Dünste sich vereinigen und herabfallen können.
* * *